Grazie und Präzision

22.5.2017, 19:38 Uhr
Grazie und Präzision

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Besonders freundlich hatte sich Haydn nicht geäußert: "Die Vier Jahreszeiten haben mir die Übel zugezogen. Ich hätte sie nie schreiben sollen." Und die hübschen, naturgetreuen Schilderungen des Textdichters nannte er "französischen Quark".

Trotzdem: Haydn hat an der Wiener Uraufführung eine Menge verdient, sie war ein gesellschaftliches Ereignis, von dem man sogar noch die Sitzordnung kennt. Und die Kaiserin Maria Theresia sang in einer Privataufführung die Sopranpartie: "Viel Geschmack und Ausdruck, aber ein schwaches Organ" – offenbar kein Vergleich mit der Sopranistin in Nürnberg.

Denn Marlis Petersen ist zwar keine Imperatrice, aber ein illustrer Star des internationalen Opernbetriebs: Legendär sind ihre Traviata oder Lulu. Und die "Jahreszeiten"-Hanne hat sie unter Sir Simon Rattle und mit dem BR-Symphonieorchester gesungen.

Hier wie dort überzeugte das frühere Mitglied des Nürnberger Opernensembles jenseits aller Aufführungsroutine: ein in allen Lagen anrührend ansprechender Sopran mit erfüllter Textausdeutung, leuchtend in allen Stimmlagen und mit schelmischer, nie neckischer Darstellung. Wenn der prächtige Bariton Thomas Faulkner mit mächtigem Verkündigungston als Landmann Simon auftritt ("Seht, wie der strenge Winter flieht"), und Tilman Lichdi als Lukas mit leuchtendem Piano und strahlendem Tenor den göttlichen Segen auf Land und Leute herabfleht, weiß man: Da steht dieser Aufführung ein Solistenterzett von allererster Qualität zur Verfügung.

Das reißt schnell auch alle anderen Ausführenden mit – das Publikum sowieso. Die Symphoniker haben an ihren ersten Shelley-freien Tagen hörbar Lust auf die detailreiche Genremalerei, auf die farbigst ausgemalten Szenen aus Fauna und Flora, von Gewittersturm bis Jagdgetümmel mit bravourösem Naturhorn.

Auch wenn es in Haydns Oratorium nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Fiktion in naiver Sicht auf Leben und Welt geht und darum, wie der "aufgeklärte" Mensch Natur und Gesellschaft sieht: Was da 1801 komponiert war, war schon damals nur ein Wunschbild, während Napoleon die politisch-religiösen Grundfesten zu erschüttern begann.

Gerade diese Vielschichtigkeit verlangt nach äußerster Textverständlichkeit: Darum bemühte sich der Hans-Sachs-Chor vorbildlich, Dirigent Guido Johannes Rumstadt ließ ihm und den Solisten als Opernroutinier genüsslich Zeit für viel Anschaulichkeit. Der Chor bewährte sich zwischen pastoser Feierlichkeit, melodischer Grazie und zupackender Präzision bis hin zum "Lustgeschrei" beim "brausenden Most". Das Finale gelang in tiefgründiger "Zauberflöten"-Nähe. Mit so einer Aufführung erübrigt sich die Frage, ob das Oratorium als Kunstform ausgedient hat.

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