Der weiße Engel gibt sein Geheimnis preis

10.1.2012, 17:06 Uhr
Der weiße Engel gibt sein Geheimnis preis

© Dieter Wegener

Wie kam es dazu, dass Eberlein der im Alter von nur 33 Jahren verstorbenen Marie Schwanhäußer einen Marmorengel widmete? Urgroßenkelin Angelika Schwanhäußer weiß es. Und die Geschichte zeigt: Auch diese Geschichte ist längst noch nicht vorbei.

Angelika Schwanhäußer ist die Urgroßenkelin von Gustav Adam Schwanhäußer, dem Gründer der heute weltweit agierenden Schwanhäußer Industrie Holding GmbH & Co. KG. Mit erheblichem Einsatz hat sie durchgesetzt, dass der Marmorengel am Familiengrab der Schwanhäußers restauriert wurde, denn sie ist natürlich auch die Urgroßenkelin von Marie Schwanhäußer, der ersten Frau des Unternehmensgründers. Unser Engel auf dem Johannisfriedhof hieß ursprünglich Marie Amalie Wüstenfeld. Sie war die Tochter eines angesehenen Industriellen aus Hannoversch Münden. Es ist ein wundersamer Zufall, dass der Mann, der nach dem Ableben von Marie Schwanhäußer den Grabengel nach ihrem Abbild schuf, ebenfalls aus Hannoversch Münden stammte. Die Wege von beiden führten später nach Nürnberg.

Der weiße Engel gibt sein Geheimnis preis

© Dieter Wegener

Caroline, die ältere Schwester von Gustav Adam Schwanhäußer, verbrachte 1867 einige Zeit bei der Familie Wüstenfeld. Sie war es wohl, die ihren durch und durch soliden Bruder Gustav Adam Schwanhäußer mit der eher zurückhaltenden Marie zusammenbrachte. Und es funkte! Am 30. August 1868 heiratete Gustav Adam seine Marie. Nach der Hochzeit in Hannoversch Münden reisten beide nach Nürnberg und lebten dort in einem Häuschen am Maxtorgraben 11. Zu diesem Zeitpunkt studierte der junge Gustav Eberlein bereits seit zwei Jahren an der Kunstgewerbeschule Nürnberg, wo er bis 1869 unter den Fittichen des Kunstschuldirektors August von Kreling stand.

Doch der mittellose Eberlein hätte sein Studium niemals beenden können, hätte ihn nicht Gustav Adam Schwanhäußer finanziell unterstützt. Und so lernte Eberlein auch Marie Schwanhäußer persönlich kennen, ohne zu ahnen, dass er in wenigen Jahren zu ihrem Gedenken einen Marmorengel erschaffen würde...

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© privat

Marie Schwanhäußer schenkte ihrem Mann vier gesunde Kinder, im Zeitraum von 1871 bis 1874. Doch dann, am 16. Februar 1875, starb die kleine Maria Anna noch im Säuglingsalter. Für Gustav Adam Schwanhäußer war dies ein tragisches Jahr: Er verlor nicht nur das fünfte Kind, sondern auch seine Frau Marie. Im Alter von nur 33 Jahren starb sie am 6. November an den Folgen des Kindbetts. Seine Schwester Caroline, die diese Beziehung eingefädelt hatte, kümmerte sich dann um Haushalt und Kinder, bis Gustav Adam Schwanhäußer acht Jahre später, im März 1883, eine neue Verbindung mit Helene, geborene Fischer, einging.

Das Leben nahm seinen Lauf, auch für Gustav Eberlein, dem Gustav Adolf Schwanhäußer nicht nur sein Studium an der Kunstgewerbeschule Nürnberg finanzierte, sondern auch eine Studienreise nach Venedig ermöglichte. Gustav Eberlein, dessen Denkmäler weltweit in vielen Städten zu sehen sind, vom Richard-Wagner-Denkmal und dem Lortzing-Denkmal im Berliner Tiergarten, dem Goethe-Denkmal in Rom, dem Nationaldenkmal in Buenos Aires und dem kolossalen Deutschen Brunnen in Santiago de Chile, schuf nach dem Ableben von Marie Schwanhäußer voller Dankbarkeit den Grabengel für die verstorbene Frau seines Förderers. In seinen Memoiren schrieb er, Michelangelo zitierend und Gustav Adam Schwanhäußer meinend: „Vor der Güte des trefflichen Mannes zerfiel meine weinende Sorge in nichts...“

Der Grabengel auf dem Familiengrab Schwanhäußer zeigt ein meisterhaftes Werk der frühen Phase des Künstlers und zugleich Eberleins erstes Werk in Marmor. Die Gustav-Eberlein-Forschung stellt dazu fest: „Eine derart eindrucksvolle Verbindung und gestufte Ausgewogenheit von Kreuz und Figur erreicht Eberlein nicht wieder in seinen anderen Grabmalen.“

Das Schwanhäußer-Grabmal sei zurückhaltend und ausgewogen. Die auf einer pyramidalen Anordnung beruhende Konstruktion lasse den Betrachter das Kreuz und die niederknieende Frauenfigur gleichermaßen erfassen. Die Scharfkantigkeit des Kreuzes fördere den Kontrast zum weich modellierten Körper, dessen Weichheit durch ein zart fallendes Gewand unterstrichen werde.

Der weiße Engel gibt sein Geheimnis preis

© Dieter Wegener

Das Kreuz wird in der linken Hand gehalten, der Kranz in der rechten Hand ganz am Boden vermittelt ein Gleichgewicht zum Kreuz. Das Gesicht des Engels hat Eberlein verblüffend nah dem der verstorbenen Marie Schwanhäußer nachmodelliert.

Prof. Rolf Grimm zeigt sich beeindruckt: „Das sanfte, jugendliche Gesicht, das sich in die harte Gabelung des Kreuzes einfügt, zeigt einen Moment des Innehaltens, nicht des Endes. Hier ist der Weg in eine andere Welt, in der das Kreuz den Menschen überragt, vorgezeichnet. Dies ist Marie Schwanhäußer im Moment des Abschiednehmens und Ankommens zugleich.“

Angelika Schwanhäußer sieht das genauso. Sie lebt jetzt in dem Haus, das nach der zerbombten Krelingvilla, in dem Eberleins Kunstschuldirektor lebte, auf demselben Grundstück entstand. Ihr Urgroßvater war 1881 in die Jugendstilvilla eingezogen – drei Generationen Schwanhäußers lebten dort.

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Einen Wechsel des Grabengels ins Germanische Nationalmuseum hält Angelika Schwanhäuser für möglich: „Am bisherigen Standort würde er, auf Kosten der Familie Schwanhäußer, durch ein Replikat aus Kunststein ersetzt werden.“ Das Museum gehe davon aus, dass auch der Sockel mit den Inschrifttafeln übernommen werde, „um die Originalität des Grabmals insgesamt beizubehalten“.

Warum aber hat der Marmorengel Marie Schwanhäußer keine Flügel? War dies eine Eigenwilligkeit von Gustav Eberlein? Hat er sie gar vergessen? Natürlich nicht: Die Flügel dieses Engels sind im Krieg abhanden gekommen. Sie werden vielleicht als Zeichen des Überirdischen am Replikat nachmodelliert werden, nicht aber am Original. Wechselt also der Grabengel tatsächlich vom Johannisfriedhof ins Germanische, wird er von dort nicht mehr abheben, zumindest keinesfalls mit der Kraft von Flügeln.

Wer nun neugierig geworden ist und den Engel bereits in der Winterzeit betrachten will, wird ihn nicht sehen. Es ist die einzige Darstellung auf dem Johannisfriedhof, die abgedeckt werden darf: zu wertvoll, zu selten, zu empfindlich – auch Engel wollen beschützt sein!

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