Eine Kirche, die immer voll ist

25.11.2006, 00:00 Uhr
Eine Kirche, die immer voll ist

In wenigen Wochen tritt Weidinger in den Ruhestand und darf seinem Ehrentitel «der Armenpfarrer“ dann ein «i. R.“ hintanhängen. «Bei mir heißt das: in Reichweite“, beruhigt Weidinger seine «Schäfchen“, denn er bleibt in der Nähe und wird weiter für die Mühseligen und Beladenen da sein.

«Hört mir auf, Christen sein zu wollen, bevor ihr nicht ordentliche Menschen seid“, zitiert Weidinger einen Pfarrer aus dem Ries, wo der gebürtige Wiener Dienst tat, bevor er vor 25 Jahren nach Nürnberg in die Gemeinde St. Jakob kam. Dieser Satz hat ihn geprägt und ihm geholfen bei seiner schwierigen Mission in der Nürnberger Innenstadtgemeinde, zu der neben dem Männerheim der Heilsarmee auch das Rotlichtviertel gehört und die unter einem massiven Mitgliederschwund litt. Dass Weidinger es in St. Jakob trotzdem so lange aushielt, ist das eine, fast genauso ungewöhnlich ist aber, dass ihn die evangelisch-lutherische Landeskirche so lange gewähren ließ, denn normalerweise sollten die Pfarrer spätestens nach zehn Jahren ihre Gemeinden wechseln.

Andererseits dürfte es wohl nur wenige Theologen danach drängen, derart geballt mit dem menschlichen Leid konfrontiert zu werden. «Fast täglich stehen Hilfe Suchende vor der Türe“, berichtet Weidinger. Entwurzelte mit Alkohol- und Drogenproblemen, hoffnungslos Verschuldete, Trauernde, Sterbende . . . In letzter Zeit sind es besonders häufig auch Menschen, die nach einer gescheiterten Ehe nicht mehr weiter wissen. Manchmal kommt auch einfach jemand und sagt: «Ich habe Hunger.“ Weidinger erinnert sich noch gut an jenen hungrigen Mann, der ihm nach dem Essen sein «Zuhause“ zeigte: Ein Schrottauto am Nordostbahnhof, in dem er mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern hauste, wobei eines der Kinder geistig behindert war und dauernd schrie.

«Ich habe vergessen, dass die Leute ja auch Kinder haben“, entschuldigte sich der Armenpfarrer daraufhin «bei dem da oben“ dafür, dass er bislang die Kinder nicht sorgfältiger beachtet hat. Inzwischen unterstützt er beispielsweise eine Frau aus Craiova, die von hier aus ihren beiden krebskranken Nichten Geld in die Heimat schickt. Mit Gott, so ergänzt Weidinger angesichts der fragenden Gesichter, rede er häufiger, und er sagt es so, als sei dies sogar für einen Pfarrer nicht unbedingt selbstverständlich.

Im Laufe der Jahre schwinden die Illusionen

In den 25 Jahren hat er über seine Klientel nicht nur gelernt, dass sie Kinder hat, die eine besondere Betreuung und Fürsorge brauchen. «Der kriegt das mit dem Alkohol nicht hin, da mache ich mir inzwischen keine Illussionen mehr“, sagt er beispielsweise über den arbeitlosen Jürgen, einer derjenigen, die in der Jakobskirche fast immer offene Türen und unbürokratische Hilfe finden.

Auch Eddie («ich heiße eigentlich Klaus“) fand Unterstützung. Der Langzeitarbeitslose revanchiert sich, indem er selber mithilft, etwa in der im ersten Stock der Kirche eingerichteten Kleiderkammer oder beim Austragen des Kirchenboten. Dabei war er nach schlechten Erfahrungen in anderen Nürnberger Gemeinden schon aus der Kirche ausgetreten. Durch Pfarrer Weidinger fand er wieder zurück.

Hilfe Suchende werden selbst zu Helfern

Eddie versucht außerdem mit Thomas (Nachnamen sind in St. Jakob nicht so wichtig), den Andrang in der Kirche etwas zu kanalisieren. Weidinger nennt die beiden daher: «meine Securities“. Denn manchmal, so Thomas, geht es unter den Obdachlosen und Not Leidenden «doch ziemlich aggressiv zu“. Herumliegen lassen, so fügt Elisabeth hinzu, die die Kleiderkammer betreut, dürfe man auch nichts. Ihr sei schon zwei Mal das Handy gestohlen worden.

«Es gibt aber auch viele schöne Momente“, meint Weidinger, der offiziell noch bis Ende März Pfarrer an St. Jakob ist. Besonders schwärmen er und seine Helfer von den Weihnachtsfeiern. «Da herrscht eine solche Fröhlichkeit und Herzlichkeit“, berichtet Thomas. Für Weidinger ist der Heilige Abend zudem eine Möglichkeit, einen Gottesdienst ganz auf Fränkisch zu halten. «Amen heißt da: jou wergli!“ Auch lokale Größen wie Günter Stössel oder Sophie Keeser haben bei seiner «Fränkischen Weihnacht“ schon mitgewirkt. Der unvergessenen Nürnberger Schauspielerin hat der Armenpfarrer unter dem Titel «Sophies Vermächtnis“ vor fünf Jahren übrigens eine Rundfunkandacht gewidmet und damit den katholischen Medienpreis, verbunden mit einer Reise zum Papst, gewonnen.

Umgekehrt macht Weidinger aber auch keinen Unterschied, ob ein Evangelischer oder ein Andersgläubiger in seiner Kirche Hilfe sucht. «Wir sind doch alle gleich.“ Er verweist da zunächst auf Georg, der mit acht Jahren von der Mutter verstoßen wurde und seitdem unter Brücken lebt. Georg ist der gleiche Jahrgang wie Weidinger. Obwohl ihnen das Leben unterschiedlich mitgespielt hat, feiern sie ihre Geburtstage immer gemeinsam. Dann deutet der Armenpfarrer auf Ignaz: «Das da ist ein überzeugter Katholik, aber wir verstehen uns blendend.“ Der 66-jährige Ignaz, der sich seit Jahren in Nürnberg als Nikolaus, Pelzmärtel oder Osterhase durchschlägt, wollte eigentlich schon längst wieder zurück in seine Heimatstadt Augsburg: «Aber so lange der Helmut Weidinger hier ist, bleibe ich auch hier.“ Peter Viebig

Die Obdachlosenhilfe in St. Jakob ist dauernd auf Spenden angewiesen: Kto. 1 571 079 bei der Acredo-Bank (BLZ 520 604 10).

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