Zeigen Sie Haltung!

25.11.2011, 13:00 Uhr

Es ist schon seltsam, das Herbstwetter ist so gut wie lange nicht mehr, das dreckige Schmuddelwetter als düsterer Hintergrund für die typisch deutsche Welteindunkelei will einfach nicht kommen. Es geht uns gut. Doch ein latenter Albdruck liegt in der Luft.

Gründe zur Sorge gibt es genug. Das europäische Dach kracht über unseren Köpfen zusammen, und jeder hofft, von den herabstürzenden Trümmern nicht getroffen zu werden. Bürgerliche Werte wie Vertrauen, Rechtschaffenheit und Maß wurden auf den Finanzplätzen verzockt. Werte und Sicherheiten, die gestern noch zu den Garantien unseres Lebens in Frieden und Wohlstand zu gehören schienen, fallen ins Bodenlose.

Wer genau hinsieht, erkennt, dass wir nicht nur eine Schuldenkrise haben, die Banken und Staaten angesteckt hat. Wir stecken auch in einer Orientierungskrise. Wir haben uns gnadenlos verschuldet: an den nächsten Generationen, an der Natur, an Ideen und an öffentlichen Gütern. So haben wir alle die Gestaltungsoptionen unserer Kinder beliehen.

Als verschuldete Gesellschaft stehen wir überall in der Kreide. Und am teuersten kommen vielleicht die Schulden, die man mit Geld gar nicht bezahlen kann. Aus der Schuldenkrise ist auch eine moralische Schuldenkrise geworden. Woran können wir uns noch orientieren? Spielen die Werte und Haltungen, die aus dem Christentum kommen, noch eine Rolle? Oder ist diese kulturelle Grammatik der Moral, die den westlichen Kulturkreis geprägt hat, so vergangen wie das Latein als Sprache der Gebildeten?

Das sind wichtige Fragen, die sich im theologischen Oberseminar so wenig klären lassen wie die Frage nach der Bedeutung des Lateins. Mein Schlüsselerlebnis in den letzten Wochen ergab sich beiläufig in der Umkleidekabine eines Berliner Turnvereins. Ein kleines Mädchen erzählte begeistert am Tag vor St. Martin: „Wir machen morgen einen Laternenumzug.“ „Wir auch“, antwortete mein vierjähriger Sohn. „Und was macht ihr danach? Bei uns kommt der heilige St. Martin.“ Das Mädchen guckt irritiert. „Bei uns kommt das tapfere Schneiderlein.“

Die Eltern, die das Gespräch amüsiert mitverfolgen, finden offenbar nichts Verstörendes an der Antwort. Doch ich stehe fassungslos vor dem kleinen Mädchen und frage: „Und kennst Du denn die Geschichte von St. Martin?“ Sie schüttelt den Kopf. Im Kindergarten der Fünfjährigen hat man, wie ich später erfahre, entschieden, alle christlichen Bezüge aus dem Festkalender zu streichen. Weltoffen will die Einrichtung sein. So wird diesem kleinen Kind die Tür zu einer Welt vor der Nase zugeschlagen, die sie durch kein Moralseminar der Welt wieder aufgeschlossen kriegt.

Ich sehe es an meinem Sohn. Die Geschichte vom heiligen Martin, der seinen Mantel mit einem Armen teilte und der von seiner christlichen Überzeugung so mitreißend erzählen konnte, dass sogar die Gänse zu schnattern vergaßen, das ist eine Grundgeschichte des Christentums, in dem sich nicht weniger als eine Urszene des Christentums vermittelt, die Orientierung an einer Haltung zum Leben, die nach dem Anderen fragt, die sich zum Anderen herunterbeugt, die zur Not eigene Nachteile in Kauf nimmt, weil sie sich anrühren lässt von den Schwachen, die auf dem Boden sitzen.

Diese Alltagsszene erzählt viel über die Gegenwart oder Abwesenheit christlicher Orientierungen. Sie lassen sich nicht aufreden oder predigen, auch wenn sie in allerlei Sonntagsreden auf Kanzeln und Bühnen wohlfeil angeboten werden. Sie müssen eingeübt werden.

Worauf will dieses kleine Mädchen zurückgreifen, wenn es einmal als Investmentbankerin, als Landtagsabgeordnete oder als Ingenieurin arbeitet? Auf welche Haltungen kann sie zurückgreifen, wenn sie innerhalb von wenigen Minuten Entscheidungen treffen muss, die viele andere Menschen betreffen? Worin lässt sie sich in ihrem Urteil leiten?

Moral braucht Phantasie, Orientierung im Leben braucht auch Prinzipien und Normen, doch damit sie verlässlich im eigenen Handeln akzeptiert werden, braucht es Geschichten, Erfahrungen, Proberäume.

Gehört das Christentum noch zu Europa? Als kulturelle Grammatik wird es immer dazugehören. Es hat Recht, Wirtschaft, Kunst, Politik so tief geprägt, dass es nicht verschwindet.

Aber wenn das Christentum akut und wirksam bleiben soll, wenn es Menschen heute bewegen und verändern soll, dann braucht es Orte, in denen diese Haltung erprobt wird. Die Welt wird nicht in den Chefetagen verändert. Sie wird in den Kinderzimmern und Kindergärten aus den Angeln gehoben. Hier wachsen, wenn es gut läuft, Menschen heran, die sich an anderen Werten orientieren als an denen, die beinahe täglich diskreditiert werden.

Im Augenblick wird gerne das Wort vom „Systemversagen“ bemüht, wenn der Zustand der Gesellschaft und ihrer Institutionen beklagt wird. Das klingt wie Herzversagen, ein Schicksalsschlag, für den niemand die Verantwortung trägt. Schuld ist keine Kategorie mehr in einer Welt, in der Subjekte keine Verantwortung mehr für die Folgen ihres Handelns übernehmen. Systeme sind dumm. Sie schotten sich ab und wiederholen immer dieselben Fehler, die Menschen ihnen einprogrammiert haben.

Wer die Geschichte von St. Martin erzählt, deutet die Welt anders. Nicht achselzuckend, mit dem traurigen Gedanken, dass man ja doch nichts machen könne, sondern so: Menschen können neue Wege einschlagen. Sie können sich umorientieren. Sie können sogar Kehrtwenden machen. Sie können ihrem Leben eine neue Ausrichtung geben. Sie können Fehler eingestehen und Schuld bekennen, weil sie erfahren haben, dass sie geachtet und gewürdigt sind, auch wenn sie gar nichts, schon gar nichts Gutes, geleistet haben.

Die inneren Haltungen, die aus dieser Grundunterstellung des Christentums erwachsen, sind altmodisch: Demut und Freimut, Maß und Tapferkeit, Weisheit, Barmherzigkeit und die Fähigkeit zur Vergebung und zum Neuanfang. Genaugenommen sind es genau die Haltungen, die wir heute bräuchten.

Wir brauchen die Haltungen, die uns in dieser Orientierungskrise helfen, nicht erfinden, wir müssen sie wieder neu einüben. Dann wird die moralische Grammatik des Christentums unseren Alltag bestimmen, ganz gleich, ob wir viel oder wenig Verantwortung in der Gesellschaft haben.
 

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