Das wahre Wiesengefühl

30.5.2011, 18:03 Uhr

Klingt absurd. Und ist beileibe nicht die letzte Absurdität, auf die der Künstler und Grasliebhaber Thomas May aus Fürth gestoßen ist. Und die vier Mädchen und zwei Buben im Kunstraum der Nürnberger Paul-Moor-Schule haben ihren Spaß an Mays Erzählungen.

Was kann man denn noch alles mit Gras anfangen? „Suppe kochen“, schlägt May vor. „Das haben die Leute früher im Krieg und in der Nachkriegszeit auch gemacht. Mit Pimpernelle und Brennnesseln.“ Noch besser aber: Mit Gras lässt sich Kunst machen. Zum Beispiel kann man aus einem Stab Balsaholz einen Grashalm schnitzen.

Und schon teilt die Kunsterzieherin Elisabeth Hörmann kleine Messer an die Mitglieder der Kunst AG zwischen 12 und 15 Jahren aus. „Aber vorsichtig beim Schnitzen, bitte immer vom Körper weg schneiden!“ Die blonde Jenny führt die Klinge aber lieber zum Körper hin. Auf eine kritische Bemerkung reagiert sie unwirsch: „Ich schneide mich schon nicht!“

Die Paul-Moor-Schule ist ein sonderpädagogisches Förderzentrum. Die Kinder und Jugendlichen, die dort lernen, sind nicht im landläufigen Sinne „dumm“. Aber sie sind vielleicht etwas langsamer als ihre Altersgenossen, werden in großen Klassen schnell in den Hintergrund gedrängt und ausgegrenzt. Irgendwann empfinden sie das Lernen nur noch als Qual und machen die Schotten dicht. In der Paul-Moor-Schule lernen die Kinder in kleinen Klassen, in kleineren Portionen und mit anderem pädagogischem Zugang. Wer die Neugier und Lust am Lernen wieder entdeckt und Fortschritte macht, kehrt bald auf die Grund- oder Hauptschule zurück.

Dass Thomas May die Schule besucht, ist kein Zufall: Von seinem Zugang zur Kunst, seiner Art, mit und in der Natur zu arbeiten, verspricht sich der Schulleiter Thomas Lechner kreative Impulse für die Kinder. Darum hat die Schule von der Artothek Mays Werk „Mohnblume“ für drei Monate ausgeliehen. In diesen drei Monaten steht May im Mittelpunkt des Kunstunterrichts.

Während die Buben und Mädchen an ihren Halmen schnitzen, erzählt Thomas May – stilgerecht grasgrün gekleidet – munter weiter von Dürers Rasenstück und dem Pflanzenensemble, das in dieser Zusammenstellung in der Natur nicht vorkommt: „Dürer hat nämlich Blumen und Kräuter gemalt, deren Blüte zu unterschiedlichen Zeiten stattfindet“, erklärt May. Also ist Dürer der erste große Vordenker der Grashalmkunst.

Im Zuge der Renaturierung der Donauwiesen bei Bad Gögging (nahe Neustadt/Donau) installiert Thomas May dort seine Graskunst. Und die Kinder helfen ihm dabei. Gestern ging es los. Ein Botaniker hält in den Wiesen nach einer bestimmten Grassorte Ausschau. Alle Halme werden mit Pflöcken gekennzeichnet und diese mit pinkfarbenem und gelbem Nylondraht verbunden.

„Auf diese Weise sehen wir, wie sich ein bestimmtes Gras in der Wiese verteilt“, erklärt Thomas May. Ist das nicht Kunst? Aber ja! „Diese Wiese ist der eigentliche Zeichner, und wir machen mit unseren Fäden nur sichtbar, was in der Wiese drinsteckt.“

150 Pflöcke und mehrere Hundert Meter Nylonseil liegen schon bereit, hinzu kommen noch neun weitere Hauptschüler aus Neustadt. Zur Stärkung und zum wahren Wiesengefühl gibt es Grassuppe und -quark; damit das Grün blühe und gedeihe, bespielen Musiker den Wiesengrund mit Mozart und improvisieren Tänzerinnen über der lachenden Au.

Der Pausengong erschallt, Michaela springt auf und stürzt sich ins Getümmel. Vor jedem Kind liegen ein ordentlicher Haufen Späne und ein schöner Stengel. Die Neugier ist erwacht. Und Jenny hat sich nicht geschnitten. May ist mit dem Auftakt zufrieden: „Wenn Förderkinder ihre Berührungsängste überwinden, dann sind sie mit Herzblut bei der Sache.“

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