85 Jahre und kein neues Hüftgelenk?

19.10.2010, 07:13 Uhr
85 Jahre und kein neues Hüftgelenk?

© dpa

Max Kaplan spart nicht mit Kritik: „Unfair, unmoralisch und undemokratisch“, sei das, schimpft der Präsident der Bayerischen Ärztekammer. Allerdings erzürnt den Mediziner nicht etwa die Vorstellung, dass medizinische Leistungen in der Zukunft vielleicht nur noch nach Dringlichkeit, also priorisiert, vergeben werden. Den obersten bayerischen Arzt ärgert vielmehr, dass bereits heute, Tag für Tag, eine heimliche Priorisierung in der Medizin stattfinde.

Unter Priorisierung versteht man die Aufstellung einer Rangfolge. Der deutsche Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe hatte die Debatte im vergangenen Jahr angestoßen und gefordert, die Politik müsse endlich definieren, wer in Zeiten knapper Mittel vordringlich behandelt werden solle. So wie beispielsweise in Schweden, wo ein von der Politik aufgestelltes Stufenmodell existiert. Dieses legt fest, dass die meisten Mittel zur Behandlung lebensbedrohlich erkrankter Menschen verwendet werden. Etwas weniger Geld steht für die nicht lebensbedrohlich Erkrankten zur Verfügung, noch weniger für Prävention und Rehabilitation.

In Deutschland hingegen, so Kaplan, gäben Politik und Kassen den Versicherten das „uneingeschränkte Leistungsversprechen“, dass alle medizinisch notwendigen Therapien bezahlt würden. Doch der Arzt werde von Budgets und Regressforderungen beschränkt und müsse selbst entscheiden, wem er die immer knapper werdenden Ressourcen zugutekommen lässt — und wem nicht. „Die Entscheidung über die Rationierung medizinischer Leistungen wird bereits heute getroffen — in der Praxis und am Krankenbett“, ärgert sich Kaplan, „aber dort gehört sie nicht hin, sondern auf die politische Ebene.“

Problematisch und gefährlich

Die will allerdings von der Debatte nichts wissen. „Ich halte die Priorisierung für hochproblematisch und gefährlich“, meint beispielsweise Bayerns Gesundheitsminister Markus Söder (CSU) in Fürth. „Wir müssen weiter den Zugang für alle zum medizinischen Fortschritt garantieren. Eine Situation wie in Großbritannien wollen wir nicht.“ Söder dürfte den allermeisten Bürgern damit aus dem Herzen sprechen: Bei der Vorstellung, die Behandlungskosten könnten, wie auf den britischen Inseln, auf einen Jahreshöchstbetrag von 30000 Pfund (gut 34000 Euro) begrenzt werden, dürfte es den deutschen Versicherten eiskalt den Rücken herunterlaufen.

Die Experten, die in Fürth diskutieren, sehen dennoch eher die Politik als die Mediziner unter Zugzwang. „Die Sache ist unangenehm, deshalb packt die Politik dieses heiße Eisen nicht an“, meint beispielsweise Professor Weyma Lübbe, Mitglied im Ethikrat. Und Petra Corvin, Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss, der die Leistungen der Kassen festlegt, ergänzt: „Wir sollten diese Diskussion offen führen und nicht den Arzt unverantwortlich damit belasten.“

Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, die ein ganz anderes Kalkül dahinter vermuten, dass viele Ärzte auf Priorisierung drängen. „Es geht doch nur ums Abkassieren“, meint ein Mediziner, „wenn immer mehr Leistungen aufgrund der Priorisierung nicht mehr von den Kassen bezahlt werden, kann man sie den Versicherten privat in Rechnung stellen.“

Kaplan wird es nicht gerne gehört haben. Der 58-Jährige wurde mit großer Mehrheit zum Nachfolger von Hans-Hellmut Koch zum Präsidenten der bayerischen Ärzteschaft gewählt. Der Nürnberger Ex-Chefarzt Koch musste krankheitsbedingt zurücktreten. Nürnberg ist aber weiterhin stark in der Ärztekammer vertreten: Zur 1. Vizepräsidentin wurde Heidemarie Lux (59) bestimmt. Sie ist Oberärztin am Klinikum.