„Deutschland ist meine Heimat“

10.10.2015, 21:00 Uhr
„Deutschland ist meine Heimat“

© Foto: Thomas Scherer

Wenn Sie im Fernsehen die Bilder von gestrandeten Flüchtlingen sehen, was geht Ihnen dabei durch den Kopf, Herr Ninic?

Igor Ninic: Meine Gefühle sind sehr gemischt. Zum einen freue ich mich, dass diese Menschen in Sicherheit sind, zum anderen empfinde ich Hilflosigkeit und Verärgerung. Sie begeben sich unter Lebensgefahr in die Hand von Schleppern. Und was ist mit denjenigen, die nicht einmal diese Option haben? Könnte man es den Leuten nicht ermöglichen, sicher nach Europa zu kommen?

 

Haben Sie die Erlebnisse, die Sie als Jugendlicher bei der Flucht hatten, gut verarbeitet, oder gibt es immer wieder Dinge, an die Sie speziell in diesen Tagen denken?

Ninic: Die Kriegserlebnisse und die Flucht hinterließen auch bei mir als 13-Jährigen traumatische Erinnerungen. Ich habe tote Soldaten gesehen, eine weinende Mutter, die sich bei der Beerdigung auf den Sarg ihres Kindes legte — oder das Geräusch von Mörsergranaten: Das werde ich einfach nicht los. Da fühle ich schon mit Kindern, Jugendlichen und deren Familien, die jetzt vielleicht ähnliche Szenen erleben.

 

Die Menschen laufen an Autobahnen oder Eisenbahngleisen entlang, wie kamen Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland?

Ninic: Zum Glück nicht mit Schleppern. Wir hatten ein Visum der deutschen Botschaft und kamen mit dem Bus über Ungarn und Österreich. Für die Tickets hatte meine Mutter unser Auto verkauft. In Lauf an der Pegnitz lebte eine Cousine von ihr, die uns mit einem sogenannten Garantiebrief eingeladen hatte. Damit erklärte sie sich bereit, alle Kosten zu übernehmen, so dass klar war, wir würden dem deutschen Staat nicht zur Last fallen. Außerdem durfte meine Mutter sofort arbeiten.

 

Was waren die Gründe für Ihre Flucht, fürchteten Sie um Ihr Leben?

Ninic: Wir lebten in Tuzla, der drittgrößten Stadt in Bosnien. Nicht weit entfernt tobte bereits das Kampfgeschehen, von dem man anfangs aber nicht viel mitbekam. Nachdem sich die Hinweise darauf verdichteten, dass die Lage bald nicht mehr sicher sein würde, verließen wir die Stadt am 15. Mai 1992  und fuhren vorerst zur Familie meines Onkels. Eine Rückkehr war nicht mehr möglich. Wir lebten bis zu unserer Flucht nach Deutschland an verschiedenen Orten bei unterschiedlichen Familienmitgliedern, mal ohne Strom, mal unter Granatenbeschuss, mal nur mit Kartoffeln zum Essen. Die Perspektivlosigkeit und die Angst ums eigene Leben waren entscheidend.

 

Wie haben Sie die Aufnahme in Deutschland empfunden?

Ninic: Die Situation war damals anders. Ich hatte das Gefühl, dass weder ein großes öffentliches Interesse bestand, noch besondere Emotionen vorhanden waren. Ich weiß nicht, ob es Hilfsangebote gab, wir waren auf uns selbst und auf Bekannte angewiesen. Ich hatte in Bosnien Englischunterricht, sprach aber kein Deutsch. Das lernte ich in der Schule und mir war schnell klar, dass ich mich eingliedern wollte und auch selbst Initiativen ergreifen musste.

 

Was ist Deutschland für Sie, eine zweite Heimat?

Ninic: Deutschland ist ein Land, das soziale Sicherheit, Frieden und Perspektiven bietet, und wir haben uns schnell integriert. Ich habe hier die Schule besucht, die Ausbildung zum Erzieher gemacht und schließlich mein Studium der Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule absolviert. Seit 2007 arbeite ich in Veitsbronn als Gemeindejugendpfleger und bin seit drei Jahren deutscher Staatsbürger. Heute kann ich sagen:  Deutschland ist meine Heimat.

 

Haben Sie je an eine Rückkehr gedacht?

Ninic: Wir kamen seinerzeit hierher mit der Erwartung, zurückzukehren. Allerdings hat sich meine frühere Heimat sehr stark verändert. Der Krieg säte Hass zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Fast jede Familie hat einen Angehörigen oder einen Bekannten im Krieg verloren, ich beispielsweise einen Onkel. Kriegsverbrechen auf allen Seiten brachten viel Leid und Misstrauen. Bosnien hat sich mit diesen Dingen noch nicht endgültig auseinandergesetzt. Dies sollte aber nach so einem schrecklichen Krieg die Basis für ein Miteinander sein.

 

Sie koordinieren den Helferkreis für Flüchtlinge in Veitsbronn. Wie läuft es?

Ninic: Täglich kommen engagierte Bürger dazu. Wir sind auf gutem Weg, geeignete Strukturen für Helfer zu schaffen und treffen uns regelmäßig in den Arbeitskreisen.

 

Bei der Info-Veranstaltung für die Helfer haben Sie gesagt: „Sie sprechen mit einem Flüchtling und Sie sehen, was aus mir geworden ist“. Was hat Sie dazu bewogen?

Ninic: Das habe ich spontan gesagt, ohne viel nachzudenken. Viele Veitsbronner kennen mich zwar, wissen aber nicht, dass ich als Bürgerkriegsflüchtling nach Deutschland gekommen bin. Mit diesem Satz wollte ich möglichen Vorurteilen begegnen und die Menschen bitten, das Schicksal jedes einzelnen Flüchtlings individuell zu bewerten und zu betrachten.

Informationen zum Helferkreis in Veitsbronn unter www.helferkreis-veitsbronn.de

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