"Er ist eben kein Popstar"

31.1.2019, 20:23 Uhr

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Herr Scherrer, die Europawahlen rücken näher. Für Sie Anlass zur Freude – oder für Befürchtungen?

Peter Scherrer: Ich fürchte die Wahlen nicht. Ich bin stolz darauf, dass es Europawahlen gibt und sie immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. Auch das Europaparlament hat heute mehr Kompetenzen denn je. Was ich fürchte, das ist, dass die Parteien, die eigentlich Europa abschaffen wollen und eine Gefahr sind für diese europäische Demokratie, bei der Wahl über Gebühr gewinnen. In den letzten Monaten kann man aber deutlich sehen, dass viele demokratische Kräfte ihre Energien noch einmal neu aufladen, um einen guten Wahlkampf zu machen. Es lohnt sich allemal zu kämpfen.

Wie erklären Sie sich den Aufstieg rechter und populistischer Bewegungen?

Scherrer: Diese Frage beschäftigt mich sehr. Es gibt die Erklärung, dass sich viele Menschen vergessen fühlen, die Opfer der Globalisierung geworden sind, ihren Job verloren haben und auf soziale Sicherungssysteme angewiesen sind, die nicht mehr so funktionieren, wie sie sollten. Das allein greift aber zu kurz. Populistische Parteien werden auch in Schichten gewählt, die relativ gut dastehen. Ich glaube, dort hängt das stark zusammen mit dem Wort "Angst". Es ist die Angst, bei reduzierten sozialen Sicherungssystemen ganz schnell zu denen zu gehören, die keinen Zugang mehr zum gesellschaftlichen Leben haben. Fairerweise muss man aber auch ergänzen, dass Politiken zum Teil nicht nachvollziehbar sind, dass sie den Anschein erwecken, da entscheidet eine Clique von Politikern – die Populisten sagen "das Establishment" –, zu denen wir keinen Zugang haben. Wir brauchen deshalb mehr Politik zum Anfassen und müssen den Demokratisierungsprozess in Europa vorantreiben – durch ein noch stärkeres Parlament. Dass bei der letzten Europawahl erstmals mit Spitzenkandidaten gearbeitet wurde, ist ein solcher Versuch. Allerdings ist der Versuch nur bedingt erfolgreich.

Warum?

Scherrer: Der Weg der Personalisierung ist richtig. Aber zum Beispiel ein Frans Timmermans (niederländischer Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten für das Amt des EU-Kommissionschefs, d. Red.) dürfte allenfalls einigen Politikern bekannt sein. Frans Timmermans hat als EU-Rechtsstaatlichkeitskommissar viel für den Zusammenhalt der Union getan, aber seine Arbeitsbereiche sind nicht so sehr in der Öffentlichkeit erschienen. Er ist eben kein politischer Popstar.

Hätte man also mit einem populäreren Kandidaten ins Rennen gehen müssen – zum Beispiel Martin Schulz?

Scherrer: Nicht mit Martin Schulz in Person, aber mit einem Politiker – oder einer Politikerin –, der ein klares europäisches und sozialpolitisches Profil hat. Wir als Gewerkschaften wollen ein soziales Europa – und dafür brauchen wir, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, Gesichter, die für eben dieses soziale Europa stehen.

Sie haben es erwähnt: Die Rechten sprechen oft von einem abgehobenen "Establishment" – und rechnen die Gewerkschaften meist mit dazu. Sind Gewerkschaften nicht mehr radikal, nicht mehr laut genug?

Scherrer: Zum einen wirkt da die Propaganda. Populistische Parteien nehmen für sich in Anspruch, sie seien die eigentlichen Vertreter der Arbeitnehmerinteressen. Ich habe Flyer der AfD gesehen, auf denen die Frage stand: "Willst du mal mit einem wirklichen Arbeitnehmer-Vertreter reden? Dann sprich mit uns." Zum anderen, das muss man einfach sagen, haben Gewerkschafts-Skandale, die passiert sind – wie damals bei Volkswagen – Spuren hinterlassen. Populistische Parteien greifen das natürlich sofort auf und sagen: Die machen alle gemeinsame Sache. Mit Social Media haben diese Parteien noch dazu ein Mittel in der Hand, um dieses Bild zu verbreiten. Das alles übertönt dann 99 Prozent der guten Arbeit, die Gewerkschaften vor Ort machen.

Gibt der Europäische Gewerkschaftsbund eine Wahlempfehlung ab?

Scherrer: Nur eine: Wählt Parteien, die dieses Europa stärker machen wollen. Und wählt auf keinen Fall Leute, die ins Parlament wollen, um die EU abzuschaffen. Alles andere sollte jeder für sich selbst entscheiden.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund macht regelmäßig auf die Probleme der deutschen Arbeitnehmer aufmerksam. Müssten Sie aus europäischer Perspektive heraus nicht eigentlich mal sagen: Liebe Kollegen, liebe deutsche Arbeitnehmer, euch geht’s hier doch verdammt gut?

Scherrer: Natürlich sage ich das! Die Lebensbedingungen in Europa sind höchst unterschiedlich. Auch innerhalb Deutschlands war das einst, nach dem Zweiten Weltkrieg, der Fall – wir haben darauf mit dem Länderfinanzausgleich reagiert. Die Starken müssen etwas abgeben. Das sagen wir in Europa auch. Man kann das aufs ganz kleine Leben reduzieren: Wenn meine Nachbarn alle bitterarm sind und es mir verdammt gut geht, dann haben die kein schönes Leben und ich auch nicht – genauso ist es in Europa.

Heißt das, Sie fordern einen europäischen Finanzausgleich?

Scherrer: Ja, genau. Um es aber klar zu sagen: Ich bin nicht für Alimentierung von Ländern, aber ich bin dafür, dass wir Investitionen tätigen, damit ärmere Regionen sich wirtschaftlich entwickeln können – und das kann nur Deutschland. Denn welches Land schreibt sonst seit Jahren eine Schwarze Null? Ja, diese Investitionen werden uns etwas kosten – aber es ist gut angelegtes Geld.

 

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