"Capernaum": Verlorene Kindheit

17.1.2019, 09:00 Uhr

© Alamode

Vier Jahre recherchierte Nadine Labaki in libanesischen Jugendgefängnissen, Flüchtlingslagern, bei Familien und Straßenkindern: Ihr Befund ist erschütternd: Wenn sie ihre kleinen Gesprächspartner am Ende fragte, "bist du glücklich, dass du geboren wurdest", habe die Antwort meistens "nein" gelautet, erzählte die Regisseurin in Interviews.

So ist die Geschichte des etwa zwölfjährigen Zain (Zain Al Rafeea), der zu Beginn mit Handschellen in einen Gerichtssaal geführt wird, zwar fiktiv, aber zugleich bitter wahrhaftig. Zain hat jemanden niedergestochen, "einen Hurensohn", wie er gegenüber dem Richter trotzig betont, um dann selbst zum Ankläger zu werden – gegen seine Eltern, die Kinder in die Welt setzten, ohne sich um sie zu kümmern.

Wenn Labaki dann die Vorgeschichte erzählt, entfaltet ihr Film eine atemberaubende Sogkraft, an der der sensationelle Hauptdarsteller Al Rafeea entscheidenden Anteil hat. Mit seinen zahlreichen Geschwistern lebt Zain in einer erbärmlichen Behausung im Elendsquartier von Beirut. Die Eltern haben weder Arbeit noch Papiere, das einzige, was sie können, ist Kinder zu produzieren, die – statt zur Schule zu gehen – Säfte auf der Straße verkaufen und selbst zur Ware werden. Als Zain Blutflecken auf dem Bettlaken seiner geliebten elfjährigen Schwester Sahar (Cedra Izam) entdeckt, die ihre Geschlechtsreife bezeugen, können beide das nur für kurze Zeit geheimhalten. Sahar wird mit dem Vermieter verheiratet, Zain läuft vor einem Zuhause davon, das nie eines war.

"Capernaum – Stadt der Hoffnung" erzählt von einem Jungen, der viel zu früh erwachsen werden musste, der seine Mutter vergeblich beschwor, Sahar sei doch noch ein Kind. Im Straßengewirr Beiruts trifft er auf eine junge Frau aus Äthiopien, die genauso heimatlos ist wie er. Rahil (Yordanos Shifera) lebt illegal im Libanon, ihr Baby muss sie verstecken. Sie nimmt Zain bei sich auf, als sie verschwindet, wird Zain zum Ersatzvaters des Babys.

Ohne anklagende Worte, in Bildern, die lange nachhallen, erzählt Nadine Labaki von den Entrechteten dieser Welt. Mehrmals erhebt sich die Kamera in den Himmel hinauf, blickt von oben auf die gigantische Häuserwüste, um sich wieder in die Straßenschluchten zu stürzen und den Protagonisten gleichsam beizustehen – damit sie sichtbar werden. Dass sowohl Al Rafeea wie Shifera die Schicksale ihrer Figuren nicht unvertraut sind, macht ihr Spiel doppelt berührend. (Libanon/123 Min.)

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