"Ein Sack voll Murmeln": Auf der Flucht durch Frankreich

17.8.2017, 08:47 Uhr

© Weltkino

Die Nazis haben Paris besetzt, doch für den zehnjährigen jüdischen Jungen Jo und seinen drei Jahre älteren Bruder Maurice scheint die Welt 1941 noch in Ordnung. Als zwei SS-Offiziere vor dem Friseursalon des Vaters auftauchen, stellen sich die Jungs vor das Schild mit der Aufschrift "jüdisches Geschäft" und machen sich einen Jux daraus, dass die eitlen Deutschen in die Falle tappen.

Die naive Leichtigkeit, mit der "Ein Sack voll Murmeln" beginnt, entspricht der Kindersicht, die Regisseur Duguay in seinem Film einnimmt und die sich bald mit einem erwachenden politischen Bewusstsein paart. Als die Juden in Paris den gelben Stern anlegen müssen, werden die Brüder Opfer von willkürlichen Ressentiments ihrer Spielkameraden, als ein Mitschüler seine Murmeln zum Tausch gegen das als Auszeichnung gedeutete Stigma anbietet, erklärt ihm Jo, das sei kein Stern, sondern eine Zielscheibe.

Es ist ein schneller, harter Lernprozess, den der kluge, auch als Erzähler fungierende und von Dorian Le Clech unglaublich stark verkörperte Jo erlebt. In Paris wird die Situation immer gefährlicher, die Joffos entschließen sich zur Flucht in die noch unbesetzte "freie Zone" im Süden des Landes. Die Jungs werden vorausgeschickt, weil zwei Kinder unauffälliger sind als eine ganze Familie, zu der noch zwei ältere Brüder gehören.

"Bist du Jude?"

Um Jo auf die Verhörmethoden der Nazis vorzubereiten, schlägt ihm der Vater (Patrick Bruel) in einer der berührendsten Szenen des Films mehrmals ins Gesicht, fragt dabei "Bist du Jude?", und Jo antwortet unter Tränen standhaft "Nein". Danach umarmt ihn der Vater und sagt: "Es ist besser eine Ohrfeige auszuhalten, als zu sterben, weil man Angst vor der nächsten hat."

Auch die Flucht wird für Jo und Maurice zu einem Wechselbad der Gefühle zwischen Abenteuerlust, Freiheit, inniger Bruderliebe, Angst und kompletter Überforderung. Mehrfach erfahren sie lebensrettende Hilfsbereitschaft von einem Pfarrer, einem Schleuser – oder auch von einem jüdischen Arzt und Kollaborateur. Sehr markant gespielt von Christian Clavier, reißt der Film hier auch ein in Frankreich sehr heikles Thema an. Die Jungs erleben Gewalt, Inhaftierung und perfide Verhöre durch einen aggressiven NS-Offizier.

Die Geschichte spart die Grausamkeit von Krieg, Verfolgung und Deportation nicht aus. Doch verzichtet Duguay weitgehend auf explizite Bilder und konzentiert sich vor allem auf seine jungen Protagonisten (fabelhaft ist auch Batyste Palmieri als Maurice). Die historischen Details werden dabei nur so weit ausgeführt wie es dem Verständnis eines noch halbwüchsigen, aber sehr wachsamen Jungen entspricht.

Eher konventionell inszeniert, liegt die Stärke dieses Films denn auch in der konsequent durchgehaltenen Kinderperspektive, den zwei großartigen Hauptdarstellern und dem von einer tiefen Humanität geprägten Erzählton. Dass es dabei nicht immer ganz kitschfrei zugeht, manches doch arg rührselig wirkt, verzeiht man leicht – zumal auch das Erwachsenenensemble erstklassig besetzt ist. Freigegeben ab zwölf Jahren, ist "Ein Sack voll Murmeln" auch Erwachsenen unbedingt zu empfehlen. (F/CDN/CZ/113 Min.)

Verwandte Themen


Keine Kommentare