"Leto": Zeit der Schwerelosigkeit

8.11.2018, 09:00 Uhr

© Weltkino

Leningrad: Die Clique um den beliebten Sänger und Gitarristen Mike Naumenko (Roman Bilyk) saugt die ins Land geschmuggelte Rock- und Popmusik des Westens in sich auf. Die Lieder und Texte von David Bowie, Lou Reed, Iggy Pop und T.Rex werden zum Soundtrack für das eigene Leben. Da der Spielraum für die große Rock’n’Roll-Revolution im grauen Russland jener Tage überschaubar ist, bleibt den jungen Leuten nur, selbst aktiv zu werden.

Mit seiner Band Zoopark spielt Mike regelmäßig im Leningrader "Rock Club", der sich fest in der Hand der staatlichen Zensur befindet. "Ein sowjetischer Rockmusiker muss das Positive im Menschen suchen", belehrt eine dicke Funktionärin die Musiker. Als sich eines Tages der einige Jahre jüngere Barde Viktor Tsoi (Teo Yoo) bei Naumenko vorstellt, erkennt dieser dessen Talent und hilft ihm, seine Karriere anzuschieben. Doch dann knistert es zwischen Tsoi und Mikes Ehefrau Natascha (Irina Starshenbaum), was die Dinge naturgemäß ein wenig verkompliziert.

Vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte des russischen Rockidols Viktor Tsoi (1962-1990) spürt "Leto" ("Sommer") mit leiser Wehmut einem Lebensgefühl voll Zeit- und Schwerelosigkeit nach, wie man es nur in Jugendtagen fühlt und welches dann im aufziehenden Alltag der Erwachsenenwelt schnell verblasst.

Als cineastische Stilübung in schwerem Schwarz-Weiß wird "Leto" von Brüchen durchzogen. Immer wieder verschwimmt die Handlung mit wilden, Comic-haften Traumsequenzen, in denen etwa die Fahrgäste einer Straßenbahn plötzlich zu singen beginnen und sich ein vorbeifahrendes Auto in eine Rakete verwandelt. Ein Knüller ist die von Zeit zu Zeit auftauchende Figur eines wütenden jungen Intellektuellen, der das Geschehen mit Außensicht kritisiert und lautstark darauf hinweist, dass das alles so nie stattgefunden hat.

Interessant ist ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Films. Während der Dreharbeiten wurde Regisseur Kirill Serebrennikov in St. Petersburg verhaftet, offiziell wegen des Verdachts der Veruntreuung von staatliche Geldern. Der regierungskritische Theater- und Filmemacher musste "Leto" unter Hausarrest fertigstellen.

Das Ergebnis ist wie schon sein letzter Film "Der die Zeichen liest" sehr eigen geworden. Eigentlich ist "Leto" gar kein Biopic über einen verdienten Rockmusiker, sondern ein mit leichter Hand fast schon beiläufig hingeworfener Liebesfilm. Eine Betrachtung über das Sein, das Haben, das Begehren und das Loslassen — mit opulenter Musikumgebung. Sehr lange, sehr poetisch, sehr russisch, sehr gut. (RUS/ F/128 Min.)

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