"Thelma": Im Bann der eigenen magischen Kräfte

22.3.2018, 09:00 Uhr

© Koch Films

"Thelma" beginnt mit einer verstörenden Szene, die von Anfang an ein Moment der Verunsicherung erzeugt: Ein Vater streift mit seiner kleinen Tochter durch den winterlichen Wald, zielt mit dem Gewehr auf ein Reh – und dann auf das Mädchen. Noch bevor sich das Kind umdreht, hat der Mann die Waffe wieder gesenkt. Verstehen wird man die Szene erst am Ende des Films, der nach diesem Prolog gut zwölf Jahre vorspult.

Thelma (großartig: Elli Harboe) ist inzwischen eine junge Frau, die ihr behütetes, streng christliches Elternhaus in der Provinz gerade verlassen hat, um in Oslo Biologie zu studieren. Scheu und unsicher nähert sie sich der fremden Welt, gleichwohl werden ihr die allabendlichen Kontrollanrufe der im Rollstuhl sitzenden Mutter (Ellen Dorrit Petersen) und des strengen, aber verständnisvollen Vaters (Henrik Rafaelsen) bald lästig. Man spürt, dass auf dieser Familie ein düsteres Geheimnis lastet. Als Thelma eines Tages in der Unibibliothek sitzt und die attraktive Kommilitonin Anja neben ihr Platz nimmt, wagt sie nur einen verstohlenen Seitenblick. Doch im nächsten Moment prallt ein schwarzer Vogel außen vor die Fensterscheibe, fast zeitgleich erleidet Thelma einen offenbar epileptischen Anfall.

Joachim Trier erkundet in seinem Film die verunsicherte Seele einer Frau, die ihre neuen Freiheiten im tiefen Widerspruch zu ihrer Erziehung erlebt. Schon früh hat ihr der Vater erklärt, wie es sich in der Hölle anfühlt. Die Parties und Alkohol mögen noch lässliche Sünden sein, doch je mehr sich Thelma zu Anja (Kaya Wilkins) hingezogen fühlt, umso stärker wird sie von traumatischen Erinnerungen und ihren paranormalen Fähigkeiten eingeholt.

Während einer erotischen Annäherung im Opernhaus, gerät die Deckenkonstruktion bedenklich ins Wanken, im Schwimmbad droht Thelma fast zu ertrinken, weil die Wasseroberfläche von Fliesen verschlossen scheint, und als sie Anja in ihrer Vorstellung verschwinden lässt, ist diese tatsächlich nicht mehr da. In der zweiten Hälfte kehrt der Film immer häufiger in die Kindheit seiner Heldin zurück und zu einer furchtbaren Familientragödie.

Trier setzt in seinem beunruhigend schön bebilderten Film nie auf laute Schockeffekte. Die Mystery-Elemente dienen ihm vor allem als Metapher für den emotionalen Aufruhr seiner tief verunsicherten Heldin, die schließlich radikal aufbegehrt gegen ihr strenges Elternhaus und einen strafenden Gott.

Äußerst souverän und mit durchweg hervorragenden Darstellern verbindet "Thelma" Emanzipationsgeschichte und Thriller. Ein außergewöhnliches Kinowerk, bei dem Realität und Imagination oft spannungsvoll verschwimmen. (N/F/DK/S/116 Min.)

Verwandte Themen


Keine Kommentare