"Wir": Die Doppelgänger aus dem Schattenreich

21.3.2019, 09:00 Uhr

© Universal

Meisterhaft inszeniert, geht es in seinem neuen Film nicht mehr explizit um Rassismus, sondern um viel tiefere menschliche Ängste und Abgründe.

Der Film beginnt 1986 auf einem Jahrmarkt an der kalifornischen Küste, wo die zehnjährige Adelaide in einem Spiegelkabinett, über dem in Neonschrift "Find yourself" flackert, eine verstörende Erfahrung macht. Als der Strom ausfällt und sie in den Gängen verirrt, steht plötzlich ein Mädchen vor ihr, das genauso aussieht wie sie selbst.

30 Jahre später ist Adelaide Wilson (Lupita Nyong’o) glücklich mit dem sanftmütigen Gabe (Winston Duke) verheiratet und Mutter zweier Kinder. Die Sommerferien wollen sie im Ferienhaus ihrer verstorbenen Eltern verbringen. Gabe, der gleich am ersten Tag stolz seine Neuerwerbung, ein Boot, vorführt, drängt darauf, sich am nur wenige Kilometer entfernten Strand mit einem befreundeten Ehepaar (Tim Heidecker, Elisabeth Moss) zu treffen. Adelaide hat kein gutes Gefühl dabei. Es ist der Ort, wo ihr einst ihre Doppelgängerin begegnete, ein fortwährendes Trauma, das sie sensibilisiert hat für merkwürdige Zufälle – auch wenn es nur eine Frisbeescheibe ist, die genau auf dem Punkt ihres Badetuchs landet.

Wie Jordan Peele, der auch das Drehbuch schrieb, schon in diesen ersten Sequenzen alltägliche Situationen ins Unheimliche kippen lässt, schafft von Beginn an eine faszinierend-beunruhigende Atmosphäre. Die Schocksequenz im Spiegelkabinett findet dann ihren schauerlichen Widerhall, als am späten Abend vier schattenhafte Gestalten in roten Overalls vor dem Ferienhaus der Wilsons stehen. Auf Gabes Aufforderung, das Grundstück zu verlassen, reagieren sie nicht. Als sie mit ihren goldenen Scheren dann gewaltsam in das Haus eindringen, wollen sie kein Geld, sondern Unvorstellbares: Die Vier, die aussehen wie die Wilsons, nur nicht so gut, weil ihr Dasein bisher von Elend geprägt war, sind gekommen, um das schöne Leben ihrer Ebenbilder einzufordern. Und zwar mit Leib und Seele.

Damit kommt Peele zum Kern seiner Geschichte, die auf die Spaltung Amerikas zielt – in Privilegierte (dass es hier Schwarze sind, ist marginal, aber doch bemerkenswert), und solche, die mit ihrem Leid allein gelassen werden. "Wir sind eine Gesellschaft von Menschen, die mit dem Finger auf andere zeigen und Angst haben vor Außenseitern, Ausländern, vor den Anderen", hat Peele in einem Interview gesagt. Im Film antwortet Adelaides Doppelgängerin auf die Frage, wer sie sind, mit brüchiger Stimme: "Wir sind Amerikaner". Was bedeutet, wir haben die gleichen Rechte wie ihr, wie alle Amerikaner.

Doch das hatten sie bislang nicht. Als Schatten mussten sie tief im Untergrund das Leben ihrer Vorbilder nachleben, fremdbestimmt, ohne Himmel, Licht und Sonne, ohne gutes Essen, ohne Liebe, ohne Hoffnung. Unter diesen grausamen Bedingungen verwandelten sie sich gleichsam in die monströse Variante ihrer über ihnen in Freiheit lebenden Ichs.

Peele transportiert mit "Wir" eine bitterernste Botschaft im Gewand eines atemberaubend effektvoll inszenierten Horror-Thrillers, der zusätzlich mit Ironie gewürzt ist. Wenn nach und nach immer mehr Wiedergänger nach oben drängen und ihre Ebenbilder dahinmetzeln, erinnert das an Don Siegels "Invasion der Körperfresser". Der Showdown zwischen Adelaide und ihrer Doppelgängerin findet im Untergrund statt – eine grandios choreografierte Sequenz, in die Bilder der beiden als kleine Balletttänzerinnen montiert sind und in der der geniale Soundtrack von Michael Abels seinen Höhepunkt erreicht.

Wie überzeugend jeder der Schauspieler hier zugleich sein unheimliches Alter Ego verkörpert – auch die hervorragenden Kinderdarsteller Shahadi Wright Joseph und Evan Alex – ist kaum zu fassen. Vor allem Lupita Nyong’o hätte dafür nach "12 Years a Slave" eigentlich ihren zweiten Oscar verdient. (USA/117 Min.)

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