Für einen Weg ohne Rache und Gewalt

23.9.2015, 19:43 Uhr
Für einen Weg ohne Rache und Gewalt

© Foto: privat

Frau Lindner, was kann Demütigung in einem Menschen anrichten?

Evelin Lindner: Demütigung ist ein sehr komplexes Wort. Es bezeichnet sowohl die Tat selbst, als auch ein Gefühl oder sogar eine soziale Struktur, wie etwa das Apartheid-Regime in Südafrika. Die Auswirkungen auf den Einzelnen sind sehr verschieden. Manche macht die Erfahrung von Demütigung apathisch, andere depressiv. Andere reagieren mit Wut und Gewalt. Demütigung kann aber auch Hilfsbereitschaft auslösen.

 

Wie das?

Lindner: Sehen wir in Deutschland oder Europa Bilder im Fernsehen oder in der Zeitung von Menschen, die gedemütigt werden, fliehen oder leiden müssen, löst das bei den Betrachtern oft ein Gefühl aus, helfen zu müssen. Zum Beispiel das Schicksal der Jesiden im Irak hat viele Menschen im Westen bewegt.

 

Sie reisen viel für Ihre Forschung, von Palästina bis nach Ruanda. Gibt es Unterschiede in dem, was Menschen als demütigend empfinden?

Lindner: Es gibt zwei Weltsichten, die bestimmen, was eine Person oder ein Volk oder eine Glaubensgemeinschaft als erniedrigend betrachtet. Einmal die Sicht der Ehre. Die ist vergleichbar mit dem Beispiel des Ehemanns, der seine Frau schlägt. Er sieht es als seine Pflicht, die Ordnung des Hauses zu sichern, indem er seiner Frau Respekt und Demut für ihre untergeordnete Stellung einflößt. Wenn sie das ebenso sieht, fühlt sie sich vielleicht gar nicht gedemütigt. Sie bewertet es als ihren Fehler, wenn sie geschlagen wird und akzeptiert es. Kommt sie aber mit der Sicht von gleicher Menschenwürde in Berührung, kann sich das ändern. Hier wird Demütigung nicht als Weg zu „Demut“ gesehen, sondern als Kränkung empfunden und nicht akzeptiert.

 

Würde man dieses Modell auf die Realität anwenden . . .

Lindner: . . . könnte man als ein Beispiel den Islamischen Staat nehmen. Seine Mitglieder empfinden Gewalt als legitimes Mittel, um dem Westen zu zeigen, dass sie eine Beleidigung des Islam nicht hinnehmen. Sie folgen dabei klar dem Ehre-Prinzip und handeln ähnlich wie der Ehemann aus dem vorigen Beispiel. Aber auch in den USA ist diese Sicht weit verbreitet. Das zeigt die Diskussion um die Südstaaten-Flagge, aber auch die Unmöglichkeit, ein Waffenverbot zu erlassen. Gewalt wird als legitimes Mittel der Verteidigung der Ehre gesehen. Gewissermaßen als Form der Hilfsbereitschaft.

 

Ihre These ist, dass Demütigung auch zu Liebe führen kann. Wie erklären Sie das?

Lindner: Bleiben wir beim IS-Beispiel: Die jungen Menschen, zumindest die meisten, die sich den IS-Truppen anschließen, tun das nicht, weil sie von Natur aus gewaltbereit sind. Viele tun es aus Liebe zu einer Religion, die sie in Gefahr sehen. Liebe und Gewalt hängen eng zusammen. Denken Sie an den Mord aus Eifersucht. Oder denken Sie an den Völkermord in Ruanda. Die Hutus töteten die Tutsis aus Liebe zu ihrer eigenen Gruppe. Hetzpropaganda forderte alle Hutus auf, die Ehre ihrer Ethnie gegen Demütigung zu schützen.

 

Kann Demütigung auch zu Liebe ohne Gewaltreaktion führen?

Lindner: Ja, und zwar dann, wenn die Menschen oder Völker ihre Sichtweise ändern und Demütigung nicht als Kränkung der Ehre, sondern als Verletzung der Menschenwürde, ansehen. Es wird ihnen dann bewusst, dass Systeme von Gewalt und Dominanz nicht nur unmenschlich sind, sondern auch selbstzerstörerisch, besonders in einer global vernetzten Welt.

 

Blickt man auf die Welt, die Kriege und das Leid, scheint das nicht so oft vorzukommen.

Lindner: Den Eindruck bekommt man. Dennoch ist das der einzige Weg. Der Weg, den Nelson Mandela in Südafrika gegangen ist, als er darauf verzichtete, Rache zu nehmen, nachdem er aus dem Gefängnis kam. Er hat stattdessen daran gearbeitet, dass die Menschen die Unmenschlichkeit erkennen. Und dass sie zusammenstehen und friedlich zusammenleben. Wir können nur diesen Weg gehen, wenn wir unsere Welt nicht zerstören wollen.

 

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