Geduld ist das Allerwichtigste

30.11.2015, 20:21 Uhr
Geduld ist das Allerwichtigste

In hohen Regalen stapeln sich sauber gefaltete Stoffe. Im Schrank daneben sind 30 beschriftete Boxen mit Kleinteilen wie Druckknöpfen, Perlen und Etiketten aufeinander geschlichtet. Zig Nähgarne sind der Farbe nach nebeneinander aufgereiht und auch die Schnittmuster an der Kleiderstange sind säuberlich sortiert. Sabine Fröhlke schneidert in ihrem Laden in Herpersdorf Alltagsmode, Businesskleidung, Brautkleider und Abendroben. Dafür benötigt sie viele unterschiedliche Materialien. Um den Überblick zu behalten, ist in ihrem Geschäft alles nach System geordnet.

Weitgehend freie Hand

Geduld ist das Allerwichtigste

Die Schneidermeisterin sitzt an einem großen Tisch im vergleichsweise kleinen Werkbereich und widmet sich einem weißen Oberteil. Etwas Ausgefallenes soll es werden, aus Baumwolljersey und für einen kalten Winter geeignet. Den zusammengenähten Torso des Kleidungsstücks trägt bereits eine Schneiderpuppe.

Nun geht es an die Ärmel. An den Armen soll seitlich etwas Haut hervorblitzen. Zwischen den ellipsenförmigen Löchern im Stoff sollen sechs kleine, silberne Blumen der Hingucker werden. Über ihre Ideen für das neue Oberteil hatte die 52-Jährige zwei Wochen zuvor mit der Kundin gesprochen und dabei gleich das Budget festgelegt. Meistens zeigen ihr die Kunden auf Fotos ihre Vorstellungen. In diesem Fall aber kennt die Auftraggeberin Sabine Fröhlke schon länger und lässt ihr und ihrer Kreativität bei dem Oberteil weitgehend freie Hand.

Geduld ist das Allerwichtigste

Mit weißem Garn näht die Schneidermeisterin die Blumen an. 25 Stiche pro Blüte sind notwendig, damit später nichts unschön absteht. Fröhlke ist sorgfältig, aber entspannt. „Geduld ist das Wichtigste beim Nähen“, erklärt sie, „sonst kann man es sein lassen. Alles andere sei Übungssache.“ Nachdem die Blumen befestigt sind, näht sie die einzelnen Stoffteile zu Ärmeln zusammen. Eine Overlock-Nähmaschine säubert anschließend die Nähte, so dass die Stoffränder später nicht ausfransen.

Dann öffnet sich die Ladentür. Ein Mann kommt und zeigt der Schneiderin seine Jacke: Der Reißverschluss lässt sich hochziehen, die Zacken greifen aber nicht mehr ineinander. Allerdings hat die Jacke nur 20 Mark gekostet – ein neuer Verschluss würde sich nicht lohnen. Einen Tipp gibt es aber kostenlos: Die Schneiderin rät dem Kunden, die Jacke einmal in die Waschmaschine zu stecken. Bis jetzt hat er sie immer mit Seife gewaschen, daher könnten Rückstände davon zwischen den Zacken sein.

Geduld ist das Allerwichtigste

Ab und zu bleibt es bei einer kostenlosen Beratung wie dieser. „Zubehörteile sind sehr teuer, wenn man wie ich nur Einzelstücke kauft. Das unterschätzen viele“, sagt sie. Ein normaler Reißverschluss kostet sie im Einkauf schon 15 Euro.

Nach der kurzen Unterbrechung beschäftigt sich die Schneidermeisterin wieder mit dem weißen Oberteil. Von der Innenseite aus bügelt sie die Ärmel so, dass die Naht richtig anliegt. Etwa jeder zweite Arbeitsschritt an einem Kleidungsstück ist Bügeln. Beispielsweise müssen einige Stoffe vor dem Zuschneiden abgebügelt werden, damit sie sich später nicht verkleinern.

Früher bis in die Nacht

Wenn gerade keine Kunden da sind, ist Sabine Fröhlke allein. Angestellte würden sich finanziell nicht lohnen. Die 52-Jährige störe es aber auch nicht, dass sie alleine arbeitet. Und damit es beim Schneidern nicht totenstill ist, steht über ihren Nähmaschinen ein Fernseher, der manchmal im Hintergrund läuft.

Fröhlke arbeitet zwischen eineinhalb und zwei Stunden an einem Ärmel. „Ich schreibe mir aber nicht auf, wie viel Zeit ich letztlich in ein Kleidungsstück investiert habe“, sagt sie. „Das ist mir auch nicht wichtig.“ Sie arbeitet aber nicht mehr länger als bis 18 Uhr. Vor zehn Jahren sei das ganz anders gewesen. „Da habe ich nur für den Beruf gelebt und manchmal bis in die Nacht hinein gearbeitet“, erinnert sie sich.

Denn auch wenn gerade nichts bestickt, genäht oder gebügelt werden muss, gibt es für die Selbstständige viel zu tun. Heute Vormittag sucht sie im Internet lange nach einem speziellen Jeansstoff, den sich eine Kundin für einen verspielten Faltenrock gewünscht hatte. Außerdem wollen Termine zur Anprobe vereinbart werden und auch die Abrechnung macht sich nicht von alleine. Heute morgen hat sie außerdem mit einer Druckerei wegen neuer Werbeplakaten telefoniert. Die Büroaufgaben, um die sie sich als Selbstständige natürlich auch kümmern muss, machen ihr generell wenig Freude.

Neue Kreationen zu schaffen sei dagegen für sie bis heute mehr ein Hobby als schlichtweg ihr Beruf. Ob ihr Handwerk und die Liebe zum Detail auch in Zukunft noch geschätzt werden, ist unklar. Fröhlke glaubt nicht daran: „Meine Sorte stirbt irgendwann aus. Die Modewelt wird einfach immer schnelllebiger.“ Mit dem Tempo kann das Schneiderhandwerk nicht mithalten: Circa fünf Wochen dauert es von einer Skizze bis zum fertigen Kleid. Knapp ein Viertel dieser Zeit wird schon dafür benötigt, die Schnittschablone zu erstellen. „Aber dennoch sind meine Anfertigungen oft günstiger als Konfektionsware aus edlen Boutiquen.“

Die Arbeit am Bügelbrett geht weiter: zwei Tanzhosen müssen für die Abholung vorbereitet werden. Sabine Fröhlke hat sie für ein Ehepaar geschneidert, das die Hosen beim Boogie-Woogie-Tanzen tragen möchte. Sie sind deshalb sportlich-elegant geschnitten und mit einem hohen Bund. Kurz vor Feierabend kommen die Kunden vorbei und probieren die Hosen im Ankleidezimmer an. Beide sitzen wie angegossen und das Ehepaar geht zufrieden nach Hause. „Die Hauptsache ist, dass meine Sachen den Kunden gefallen. Als Dienstleister soll man ja dienen“, sagt Fröhlke.

Wobei für sie eine ehrliche Beratung auch dazu gehört. Wenn sich jemand einen Schnitt oder Farben wünscht, die unvorteilhaft wären, dann rate sie davon auch ab. Letztlich sei es für die Maßschneiderin ja besonders schön, wenn sie mit ihren Kleidungsstücken „das Schönste aus einer Person herausholen kann“.

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