Das Leben nach der Liebe

17.8.2016, 18:12 Uhr
Das Leben nach der Liebe

© Foto: Sippel

Alain heißt er, weil bei Arnold Stadler alle Namen sprechen. Alain klingt nach allein. Und so ist es auch. Allein ist er zu einem Übersetzerkongress nach Köln gefahren, „allein mit meinem Sperma und meiner Sehnsucht“. Allein hockt er auf einer Parkbank auf der falschen Seite der Stadt und sinniert seinem Leben hinterher. Genau genommen war der heute 40-Jährige von allem Anfang an allein als für seine Geschwister deutlich zu junger Bruder und letzter Schuss eines aus der Fremdenlegion an die französische Atlantikküste heimgekehrten Vaters, der nicht mehr zusammenfindet mit seiner schöngeistigen Frau. Dieses bestenfalls parallele Nebeneinanderleben bestimmt nun auch seine Ehe mit Mausi, womit wir beim nächsten sprechenden Namen wären.

Seit 15 Jahren sind sie verheiratet. In zwei durch eine Tür verbundenen Wohnungen mit getrennten Schlafzimmern leben sie in Berlin der Wowereit-Ära, die sich als sexy definierte. Der Rang von Köchen und Friseuren übersteigt inzwischen den von Philosophen und Dichtern, und allenthalben herrscht gnadenloser Darwinismus. Mit seiner „Antikampfgeistexistenz“ und den grauer werdenden Haaren rutscht Alain da zwangsläufig an den Rand. Wer freundlich ist wie er, gilt als provinziell. Wer die Zigarren liebt, gerät ins Fadenkreuz schrecklicher Nichtraucherinnen. Nicht die besten Zeiten für so einen promovierten Tagträumer.

Der eigene Stadler-Sound

Gute Zeiten aber für Arnold Stadler, den Büchner-Preisträger des Jahres 1999, der  so wunderbar um die Ecke denken kann. Sprachverliebt lauscht er dabei den Worten nach, dreht und wendet sie, variiert sie in immer neuen, insistierenden Formulierungen, die er zum Klingen bringt, bis sie eine quasi-musikalische Qualität erreicht haben. Aus diesem Stadler-Sound, der sich Zeit nimmt und eben darum beim Lesen Zeit schenkt, entwickelt sich dann gemächlich die sehr überschaubare Handlung.

Alain und Mausi sind jeder für sich an diesem 25. und 26. Juni 2004, er in Köln, sie in Berlin. An beiden dekliniert Stadler die für sein Schreiben zentralen Begriffe Sehnsucht, Glück und Liebe erneut durch und setzt sie in die Kontinuität seines Werks, indem er alte Formeln in diesen neuen Kontext bringt. „Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, wie nun die Vergangenheit meine Heimat ist“, heißt es, und dass die Liebe „Schmerzauslöser und Schmerztablette zugleich“ ist. Und sowieso weiß man nicht nur vom Glück erst hinterher, was es war.

Alain und Mausi brauchen diese Auszeit voneinander. Zwar ist auch dank einer Erbschaft für sie gesorgt, doch wachsen die Sorgen, weil ihre Liebe in die Jahre gekommen ist. Nach ihrer großen Zeit beginnt ihre fleischlose, vegetarische. Immerhin hat Mausi ihm als Reiselektüre Cecelia Aherns „P.S. I Love You“ in die Unterhose im Koffer geschmuggelt. Vielleicht geht ja noch was: „Ach, die Welt war voll von schön gewesenen Frauen“.

Vielleicht ist die Nachricht vom Tod von Elfi, einer alten Freundin, der Katalysator dafür, dass die beiden in spiegelverkehrter Synchronizität dem Seitenspringen entgegenzittern. Nicht nur in der Oper sitzt neben Mausi der blonde Däne Jesper und ihr Herz schlägt bis hinauf in die Ohren. Alain geht es ähnlich, als seine Ex Babette auf der Konferenz und dann auch an seiner Parkbank erscheint.

Archivierte Liebhaber

Elfi hatte dieses Rauschzeithafte gelebt wie keine andere. Alle ihre Liebhaber hat sie in Alben archiviert mit ihren in die Kamera lächelnden Schwänzen. Mausi hat auch Alain in diesem Reigen entdeckt, was eine Enttäuschung, aber schon keine Ehekrise mehr auslöste. Nun ist die Vielgeliebte mit 40 freiwillig aus dem Leben verschwunden, eine Steilvorlage für alle Freunde von einst hinterlassend, der man so oder so hinterherlaufen kann, heraus aus den Verkrustungen.

Über diese Fluchtversuche legt Arnold Stadler sein Sprachgitter. Verspielt, prall voll mit Beobachtungen, die den Zeitgeist unterminieren, wirft er seine Formulierungsanker in diese deutsch-französische Beziehung. Das Buch ist melancholisch, von hintergründigem Humor und kein bisschen zynisch. Es schweift aus und ab und bringt die Welt zur Sprache, wobei es immer wieder unverhofft auf den Punkt kommt.

Arnold Stadler: Rauschzeit. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt. 550 Seiten, 26 Euro. Ab 25. August im Buchhandel.

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