„Der beste Weg für die Entwicklung unserer Sinne“

8.7.2014, 19:47 Uhr
„Der beste Weg für die Entwicklung unserer Sinne“

© privat

Der Eröffnungsvortrag der Tagung stellt die berechtigte Frage „Was ist und wozu braucht man kulturelle Bildung?“ Wie lautet Ihre Antwort?

Eckart Liebau: Kulturelle Bildung ist ein weiter Begriff; man kann sehr viel Verschiedenes darunter verstehen, von der Soziokultur bis zur Bildung des Geschmacks, von ästhetischer Bildung bis zu interkultureller Bildung. Ich verstehe unter kultureller Bildung insbesondere allgemeine Bildung in den, durch die und zu den Künsten. Man braucht das vor allem aus vier Gründen: Die künstlerische Bildung ist der beste Weg für die Entwicklung unserer Sinne; sie trägt damit entscheidend zu unserer Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit bei. Hören lernen wir durch Musik, Sehen lernen wir durch Bilder, Bewegung durch Tanzen – jedes Kind zeigt das. Der zweite Grund ist ein kultureller: Die Künste sind ein wesentlicher, eigenständiger Bereich des gesellschaftlichen und des kulturellen Lebens, der sich aber nicht von selbst erschließt. Der dritte Grund: Künstlerische Aktivität bietet einzigartige Erfahrungsmöglichkeiten, in denen man über die Welt, aber auch über sich selbst Überraschendes lernen kann. Und schließlich viertens: Künstlerische Aktivitäten bieten Kommunikationsmöglichkeiten in den vielen künstlerischen Sprachen jenseits der Verbalsprachen an; sie bieten damit ganz besondere Chancen für interkulturelle und internationale Austausch- und Verständigungsprozesse – im Zeitalter der Globalisierung ein zentrales Argument.

 

„Der beste Weg für die Entwicklung unserer Sinne“

© Harald Sippel

Sie hatten als Vorkämpfer für kulturelle Bildung einen der wenigen von der Unesco ausgezeichneten Lehrstühle inne und gehen jetzt in den Ruhestand. Wie fällt Ihre persönliche „Zwischenbilanz“ aus?

Liebau: Ich gebe meinen Erlanger Lehrstuhl für Pädagogik Ende September ab; den Unesco-Lehrstuhl für kulturelle Bildung werde ich auch als „Ruheständler“ wohl noch einige Jahre innehaben. Wenn die Mitglieder des Rates für kulturelle Bildung das wünschen, werde ich auch in diesem Gremium noch länger mitwirken und leitend tätig sein können. Das ist ein Hintergrund für den Titel der Tagung – es geht um eine Zwischenbilanz in einem auf vielen Ebenen weiter zu bearbeitenden Feld. Es ist eine große Freude, dass die kulturelle Bildung im letzten Jahrzehnt international, in Deutschland, auch in Bayern viel stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt ist. Nun geht es vor allem darum, neben vielen schönen weiteren Projekten dauerhaft tragfähige Strukturen zu entwickeln. Nürnberg und die Region hatten und haben da ja schon lange sehr viel zu bieten!

 

Regelmäßig werden in Deutschland Bildungsoffensiven gefordert. Oft meinen die Politiker damit aber Weiterbildung, also berufliche Qualifikation. Handelt es sich um eine reine Begriffsverwirrung oder geht es Ihnen um ganz andere Ziele?

Liebau: Wenn in der Bildungspolitik von Bildung die Rede ist, ist in der Tat häufig Qualifikation im Sinne beruflich verwertbarer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen gemeint. Das kann man besonders deutlich an der Diskussion über die Erwachsenenbildung und das „lebenslange Lernen“ beobachten – da geht es meistens nur um das Berufsleben. Kulturelle Bildung hört aber nicht mit der Verrentung auf, sondern wird als das gesamte Leben begleitende Aufgabe und Freude verstanden, die sich auf alle möglichen Lebensbereiche beziehen kann, die ästhetischer Wahrnehmung und Gestaltung zugänglich sind.

 

Fehlt in Deutschland der politische Wille oder die Einsicht in die Notwendigkeit zu einer umfassenden kulturellen Bildung?

Liebau: Die kulturelle Bildung hat gewiss noch nicht die Bedeutung, die ihr zukommt. Man kann das besonders an den Schulen sehen: Musik, Bildende Kunst, Theater haben zumeist den Status von Nebenfächern; kulturelle Aktivitäten finden sich zudem in Arbeitsgemeinschaften oder neuerdings im Ganztagsbereich. Als wirklich wichtig gelten aber die Hauptfächer Mathematik, Fremdsprachen, Naturwissenschaften und Deutsch. Wir sind weit entfernt von einem Gleichgewicht zwischen den eher künstlerisch und den eher wissenschaftlich orientierten Aktivitäten in den Schulen. Zwar gibt es außerschulisch viele und auch hoch qualifizierte Angebote kultureller Bildung; aber sie erreichen aus bekannten Gründen längst nicht alle Kinder – am wenigsten die, die es vielleicht am stärksten brauchen, weil sie es in ihren Familien nicht finden.

 

Glauben Sie wirklich, dass kulturelle Bildung etwas an der immer mächtigeren Verblödungsmaschinerie der Massenmedien ändern kann?

Liebau: Man soll ja die Hoffnung nie aufgeben . . . Ich glaube, dass Menschen mit kräftigen eigenen künstlerischen Erfahrungen jedenfalls bessere Chancen gegen die Verblödung haben.

 

Deutschland begreift sich gern als Kulturnation, doch werden vielerorts die Mittel für Theater, Museen und Orchester knapper. Zugleich wird das Klassik- und Opern-Publikum immer älter. Ist kulturelle Bildung vor diesem Hintergrund zur Sicherung kultureller Infrastruktur nötig?

Liebau: Das schöne neudeutsche Wort für diese Strategie heißt „Audience Development“. Ich halte das für legitim und absolut notwendig. Denn die kulturelle Infrastruktur in Deutschland ist eine wunderbare Ressource, die dem Land auch besondere Chancen eröffnet. Aber sie wird nur dann erhalten werden können, wenn es gelingt, auch junge Menschen für Kunst und Kultur zu interessieren.

 

Welche Aufgabe hat in diesem Zusammenhang die Akademie für Schultheater und Theaterpädagogik, bei der Sie ja weiterhin engagiert sind.

Liebau: Die Akademie ist eine Gemeinschaftseinrichtung der Universität, der Stadt Nürnberg und des Freistaats, die insbesondere der Lehrerfortbildung und der Praxisforschung im Bereich des Schultheaters dient. Von anderen theaterpädagogischen Initiativen unterscheidet sie sich durch die enge Verbindung von Theorie und Praxis und den engen Austausch zwischen Pädagogen, Wissenschaftlern und Künstlern. Sie zielt auf eine Professionalisierung und Stärkung der theatralen Bildung in der Schule und im außerschulischen Bereich. Dabei geht es auch darum, das szenische Lernen als eine Unterrichtsmethode aller Fächer weiterzuentwickeln. Mittelfristig sollen Angebote für die gesamte Lehrerbildung zur Verfügung stehen: schließlich müssen alle Lehrer wahrnehmen, darstellen, gestalten, auftreten, sprechen, etwas zeigen, sich bewegen. Diese performativen Formen bilden ein Zentrum des beruflichen Handelns von Lehrern. Sie müssen gelernt werden . . .

 

Die Tagung „Zwischenbilanz: Stand und Perspektiven kultureller Bildung“ findet am 11./12. Juli in der Werkstatt 141 „auf AEG“ in Nürnberg statt.

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