Der Chronist deutscher Sehnsucht

15.5.2015, 19:25 Uhr
Der Chronist deutscher Sehnsucht

© Foto: Aus dem vorgestellten Buch

Angesichts des Ruhms, den Edgar Reitz heute genießt, ist es kaum mehr vorstellbar, dass er lange Zeit, bis Mitte 40, ein glückloser Filmemacher war. Keine seiner frühen Produktionen hatte Erfolg beim Publikum. Als Schöpfer avantgardistischer Werbe- und Industriefilme fand Reitz früh große Anerkennnung. Doch seine Kinowerke, wie „Mahlzeiten“, „Cardillac“, „Das goldene Ding“ oder „Die Reise nach Wien“ widersprachen in ihrer unkonventionellen Machart dem Zuschauergeschmack.

Nach dem Flop von „Der Schneider von Ulm“ 1978 sah sich Reitz endgültig in einer Existenzkrise. Er zog sich vom Kino zurück, stellte seinen ganzen bisherigen Weg infrage. Thomas Koebner, Literatur- und Filmwissenschaftler und einer der intimsten Kenner des Reitz’schen Werks, zeigt auf, wie der Regisseur sich erst als Erzähler entdecken musste, um mit der „Heimat“ zu seinem Lebenswerk zu finden.

Liebe zu den Ruinen

Epische Geschichten, alles Narrative galt den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests 1962, zu denen Reitz gehörte, als tabu. Er selbst spricht in Interviews, aus denen Koebner vielfach zitiert, von der Pflicht zur Brüchigkeit und Abstraktion: „Die zerstörte Form war das eigentliche ästhetische Objekt unserer Nachkriegsjahre. Diese durchaus provokante Liebe zu den Ruinen wollten wir mit unseren Filmen zum Ausdruck bringen.“ Für Reitz führte sie damals in die Sackgasse.

„Edgar Reitz – Chronist deutscher Sehnsucht“ skizziert so auch Anspruch und Wandel des jungen deutschen Films. Im Zentrum aber steht die 1981 begonnene, in drei Zyklen erzählte „Heimat“-Saga, insgesamt 52 Stunden, ein einzigartiger Filmroman, der fast ein ganzes Jahrhundert umspannt, vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Jahrtausendwende. Das fiktive Hunsrück-Dorf Schabbach, in das Reitz 2013 noch einmal für das Kino-Epos „Die andere Heimat“, eine Chronik deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert, zurückkehrte, hat seitdem einen festen Platz in der Film- und Fersehgeschichte.

Ähnlich wie Reitz widmet sich Koebner mit großer Liebe zu den Figuren der Beschreibung des „Heimat“- Universums mit seinen zahlreichen Bewohnern und ihren vielfachen Konflikten – ein Mikrokosmos, der im ersten Zyklus „von den großen Kriegen und Krisen in der Welt ,da draußen’ nicht im Kern, aber doch merklich am Rande berührt wird“. Die zweite „Heimat“ weitet sich mit Hermann Simon, der zum Musikstudium nach München aufbricht und unschwer als Alter ego des Regisseurs zu erkennen ist, zum Künstlerdrama. Im dritten Teil entwirft Reitz ein Zeitbild des wiedervereinten Deutschlands, dessen Aufbruchstimmung am Ende der Melancholie weicht.

An den enormen Erfolg der ersten „Heimat“, die 1984 rund 25 Millionen Fernsehzuschauer sahen, konnte die zweite „Heimat“, von der Kritik hymnisch gefeiert, beim deutschen Publikum 1992 nicht mehr anknüpfen. Koebner hat dafür eine einleuchtende Erklärung: Während das dörfliche Familiensystem an kollektive Erinnerungen rührte, interessierte „das Leben und Leiden junger Künstler in der Großstadt“ eher die Minderheit der Intellektuellen.

Dass sich die TV-Anstalten in der Folge nicht mit Ruhm bekleckerten, lässt der Autor nicht unerwähnt. Der WDR trennte sich nach 20-jähriger Zusammenarbeit von Reitz. Der SWR unterwarf den Regisseur beim dritten Teil Kontrollen und Auflagen, wie sie sonst nur Anfänger erfahren. Das Ergebnis war, so Koebner, „eine verstümmelte Version“ von nur sechs Folgen im einheitlichen 90-minütigen Zeitformat. Die jetzt im Reclam-Verlag als DVD-Edition erschienene komplette „Heimat“-Trilogie enthält die ursprüngliche, fast elfstündige Fassung.

Fundierte Analyse

„Eine Biographie“ heißt das Buch im Untertitel, was etwas irreführend ist. Über das Leben des heute 82-Jährigen erfährt man wenig. Doch kommt Koebner über die fundierte Analyse der Filme, ihrer Motive, Ästhetik und Erzählform der künstlerischen Haltung dieses „scharfsichtigen Kenners der komplizierten Wirklichkeit“ sehr nahe. Nur aus dem eigenen Leben könne ein Filmemacher „seine eigene, unverwechselbare Sicht der Dinge gewinnen“: Das ist Reitz’ tiefste Überzeugung, aus der sich seine Liebe zu den „unheroischen“, universell verständlichen Figuren speist.

Thomas Koebner: Edgar Reitz – Chronist deutscher Sehnsucht. Reclam-Verlag, Stuttgart. 283 Seiten, 26,95 Euro.

Die im Reclam-Verlag erschienene 18-teilige DVD-Edition der „Heimat“-Trilogie inklusive Prolog und Epilog sowie Bonusmaterial kostet 79,99 Euro.

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