Die Wiedergeburt der Ameisen

1.1.2017, 13:00 Uhr
Die Wiedergeburt der Ameisen

© Foto: Böhner

„Das Vergangene ist nicht tot“, schrieb William Faulkner, „es ist nicht einmal vergangen.“ Diese Einsicht dürfte umso mehr gelten, je stärker man versucht, die Erinnerung an unliebsame Ereignisse zu unterdrücken. Wie in China, wo jede Debatte über die Niederschlagung der Protestbewegung von 1989 verboten ist. Dabei wurde von den kommunistischen Machthabern ganz Peking „in ein blutiges Militärcamp“ verwandelt, wie es in Liao Yiwus Roman „Die Wiedergeburt der Ameisen“ heißt.

Eindringlich und bildgewaltig erzählt dieses große Werk davon, warum das Gestern in China gegenwärtig bleiben muss, trotz aller „Umerziehungslager“ oder Internet-Zensur. Bezeichnend der Wunsch, den der Autor seinem Protagonisten Lao Wei in den Mund legt: einmal auf dem einst von hoffnungsfrohen Studenten besetzten Tiananmen-Platz Flöte zu spielen.

Auch der Autor Liao Yiwu beschwört mit seinem Flötenspiel die Toten, aber nicht auf dem „Platz des himmlischen Friedens“, sondern auf Lesungen in seiner Wahlheimat Deutschland. Hierzulande erhielt der berühmte Dissident 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in China darf seit seiner Flucht im Jahr zuvor nicht einmal mehr sein Name genannt werden. Was zu dem Kuriosum führt, dass es sich bei der deutschen Übersetzung seines ersten Romans zugleich um die Welterstausgabe handelt.

Bekannt war Liao Yiwu bislang vor allem für seine Gespräche mit den Entrechteten und Geächteten der chinesischen Gesellschaft und sein visionäres Gedicht „Massaker“ von 1989, für das Yiwu vier Jahre lang inhaftiert war. Doch zeigte schon der Gefängnisbericht „Für ein Lied und hundert Lieder“ aus dem Jahr 2011 Yiwus Qualitäten als Erzähler und Prosaist.

Von den Jahren im Gefängnis handelt unter anderem auch sein Romandebüt, das sogar in der Zelle begonnen wurde, während Yiwus Haftzeit ab 1992. Im Vorwort seines Romans berichtet der heute 58-Jährige, wie er damals Tag für Tag auf brüchigem Papier heimlich seine „ameisengleichen Schriftzeichen“ kritzelte. Und sich so einen Raum der inneren Freiheit imaginierte, der ihm trotz der ständigen Misshandlungen das psychische Überleben ermöglichte. „Eines hatte er mit der Zeit begriffen: Freiheit war ein Raum, den man aus sich selbst heraus schaffen muss.“

Das erst jetzt im Berliner Exil vollendete Werk weist Parallelen zwischen Yiwus eigener Lebensgeschichte und der seines Protagonisten auf. Das betrifft die familiären Verhältnisse ebenso wie Lao Weis Verurteilung als „Konterrevolutionär“ wegen eines Gedichts. Oder die im Roman auftretenden Intellektuellen, darunter Freunde des Autors wie den – noch immer inhaftierten – Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Die Übersetzerin Karin Betz bezeichnet den Roman daher sogar als „literarische Autobiografie“.

Doch wäre es ein Missverständnis, dieses handlungssatte Werk auf ein solches Etikett zu reduzieren. Zu beeindruckend ist dazu die Erzählkunst dieses Autors, der von expressiver Drastik bis düsterem Sarkasmus alle Stilregister zieht. Und zu überwältigend seine überbordende Einbildungskraft – die immer neuen Ausflüge ins Fantastische, Burleske mit Szenen voller Humor und Komik: darunter Begegnungen mit „echten“ Hexen und Wunderheilern, Träume und Visionen des Helden – oder ein lokaler Bauernaufstand, bei dem Lao Weis Vater gegen seinen Willen zum „Kaiser“ in einem neuen „Reich des großen Wohlstands“ gekürt wird. Natürlich dauert es nicht lange, bis die Staatsmacht die „Konterrevolution“ niederschlägt.

Wovon dieser eindrucksvolle Erinnerungsroman berichtet, das sind die fortwährenden Kollisionen des traditionellen Chinas mit der von der Partei herbeigepeitschten Moderne. Die vom Romantitel verkündete „Wiedergeburt der Ameisen“: Das sind nicht nur die ameisengleichen Schriftzeichen auf Gefängnispapier – es sind auch die Millionen und Abermillionen Opfer der Machthaber in Peking.

Liao Yiwu: Die Wiedergeburt der Ameisen. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. S. Fischer, Frankfurt. 576 Seiten, 28 Euro.

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