Doku "Being Mario Götze": Vom tiefen Fall eines WM-Helden

16.6.2018, 15:47 Uhr
Traumhaft und zugleich verhängnisvoll. Das entscheidende Tor im WM-Finale 2014 ließ den 22-jährigen Mario Götze an der resultierenden Erwartungshaltung an seine Person fast zerbrechen.

© dpa Traumhaft und zugleich verhängnisvoll. Das entscheidende Tor im WM-Finale 2014 ließ den 22-jährigen Mario Götze an der resultierenden Erwartungshaltung an seine Person fast zerbrechen.

WM-Finaltor 2014. Bolzen im Familiengarten. Die ersten Schritte beim SC Ronsberg. WM-Finaltor 2014. Deutsches Jahrhunderttalent. Durchbruch bei Borussia Dortmund. Deutscher Meister. WM-Finaltor 2014. Wechsel zum FC Bayern München. WM-Finaltor 2014. Durchhänger. Zurück zum BVB. Stoffwechselerkrankung. Allmähliches Comeback. Geplatzer WM-Traum 2018. WM-Finaltor 2014. Alles überragt es, dieses verflixte WM-Finaltor 2014.

Am 9. Juni veröffentlichte der Streaming-Anbieter DAZN "Being Mario Götze", eine vierteilige Dokumentations-Serie über den Aufstieg und Fall des titelgebenden Profi-Fußballers. Dass Sportstars eigene Dokumentationen erhalten, ist längst nichts Neues. Häufig bilden sie unvergleichliche Aufstiege ab, beispiellosen Ehrgeiz oder unvergleichliche Talent – Erfolgsgeschichten größten Ausmaßes. Nur selten ähneln die Geschichten über Sportgrößen großen griechischen Tragödien. Bei "Being Mario Götze" ist dies der Fall. Grimme-Preisträger Aljoscha Pause ("Homophobie im Fußball“/"Tom meets Zizou“) begleitete Mario Götze über sieben Monate hinweg und schaffte in seinem neuesten Werk Einblicke in das Privat- und Seelenleben einer deutschen Sportikone, die Sportfans vorher restlos verwehrt blieben.

Finaltor als Fluch

Episodenhaft erzählt Pause von den verschiedenen Stationen in Götzes so aufregendem Leben und dessen Karriere, die vermeintlich viel zu früh ihren Höhepunkt fand. Mit dem Siegtor im WM-Finale 2014, als der 22-jährige Fußballer zum WM-Helden aufstieg und gleichzeitig zur Nationalikone. Kreuz und quer zieht der Filmemacher die verschiedenen Lebens- und Karriereabschnitte heraus, folgt dabei keiner chronologischen Reihenfolge. Die Anordnung mutet auf den ersten Blick wahllos an, doch jeder Fußballfan kennt Götzes Geschichte und kann die Puzzleteile gedanklich selbst zusammensetzen. Über allem thront dieses vermaledeite Finaltor von 2014, das für Götze Fluch und Segen zugleich wurde. Einerseits erfüllte es die Prophezeiungen vom Jahrhunderttalent, erhöhte dadurch aber nur die Fallhöhe des mittlerweile 26-Jährigen, dessen beste Zeit aus sportlicher Sicht schon hinter ihm zu liegen scheint. Deshalb beginnt auch jede Folge mit Ausschnitten dieses verhängsnisvollen Tores und aller Welt, die dessen Schützen dabei zusah.

Auf der einen Seite Weltmeister und fünfmaliger deutscher Meister, auf der anderen Seite der darauffolgende Karriere-Durchhänger und eine mysteriöse Erkrankung, schließlich die Nicht-Nominierung für die WM 2018, die die vier Teile abschließt. Die Dokumentation ist für Sportfans deshalb so relevant und interessant, weil es wohl kaum bei einer Sportpersönlichkeit mehr aufzuarbeiten gibt als bei Mario Götze. Und der scheut sich nicht die Dinge offen und ehrlich anzusprechen. Das markiert die erste Erkenntnis, die Zuschauer aus "Being Mario Götze" ziehen. Im Memminger findet sich kein ruhmverwöhnter und arroganter Sportstar, der irgendwann den Boden unter den Füßen verlor. Vielmehr handelt es sich bei Götze um einen in sich gekehrten, ernsthaften, oft stoischen und gnadenlos selbstreflexivem Musterprofi, der sich nicht verstellen will, sich auf das Spiel mit den Medien eigentlich gar nicht einlassen will, aber irgendwann lernte, nachzugeben.

Götzes Ehrgeiz trieb ihn in die Krankheit

Sein Ehrgeiz wurde ihm irgendwann während seiner Zeit beim FC Bayern München sogar zum Verhängnis, was die Antwort auf seine rätselhafte Stoffwechselerkrankung darstellt, über die sich Medien und Experten monatelang die Köpfe zerbrachen. Alle lagen sie falsch, wie Götzes Leibarzt in der Doku zu Protokoll gibt. Zu viel Training und zu wenig Regeneration trieben Götzes Körper in eine Art Schutzreflex, um ihn nicht zu überlasten und irgendwann kollabieren zu lassen. Das Produkt einer öffentlichen Erwartungshaltung an ein propagiertes Jahrhunderttalent, der kein Mensch hätte gerecht werden können. Dass Beobachter annahmen, Götze sei angesichts seines leicht untersetzten Erscheinungsbilds trainingsfaul geworden, obwohl das Gegenteil der Fall war, verleiht dieser Geschichte eine perfide Note.

Seine mentale Stärke und der mutige Schritt zu einer Auszeit ließen den Profi-Fußballer zurückkehren, doch Genialität gehe auch immer mit Sensibilität einher, wie Matthias Sammer in der Doku zu Protokoll gibt. So lieferte der Spieler von Borussia Dortmund mit der Doku-Serie auch medialen Zündstoff und Zeitungen zogen häufig nur die brisanten Aussagen aus der Produktion heraus. "Nachtreten" nannten viele Götzes Aussagen, wonach Pep Guardiola und Thomas Tuchel, diese Fußball-Intellektuellen, Götzes Ansicht nach die Empathie oder der Blick für den Spieler selbst abging, anders als etwa seinem fußballerischen Ziehvater Jürgen Klopp. Oder dass Götzes vergangener Trainer Peter Stöger kaum mit Götze kommuniziert und keine Rücksicht auf ihn genommen habe. Verhängnisvoll beim Charakter Mario Götze, der nur wenige an sich heranlässt.

Aufschlussreiche Doku statt glatter Imagefilm

Wenige wird es wundern: Nur Klopp stand unter den genannten Ex-Trainern Götzes dem Macher Aljoscha Pause Rede und Antwort. Doch auch Personen aus Götzes Privatleben kommen zu Wort. Seine Brüder, sein Vater, seine baldige Ehefrau, Kollegen wie Marcel Schmelzer, Jürgen Klopp, Toni Kroos und Marc-Andre ter Stegen, auch Jogi Löw oder Hans-Joachim Watzke und Journalisten wie der Finalkommentator Tom Bartels. Unterlegt werden die Interviewaufnahmen mit Götze und den Personen aus seinem Umfeld mit Hochglanzaufnahmen aus Privat- oder Trainingsräumen, mit Spielszenen oder Archivmaterial, häufig begleitet von dramatischer Musik, die oftmals auch etwas pathetisch wirkt.

"Being Mario Götze" kennzeichnet keinen bloßen Imagefilm, dafür geht Götze mit sich selbst zu hart ins Gericht. Er hinterfragt seine Karriereentscheidungen oder die Ansprüche an die Leistungskraft seines eigenen Körpers. Auch wenn die Produktion zeitweise romantisiert und emotionalisiert, bildet sie dennoch absolut sehenswert den raschen Aufstieg und umso härteren Fall einer Sportikone ab, außerdem alle Bürden die damit einhergehen. Stoff großer Tragödien. "Ich kann mir vorstellen, dass er nach der Karriere sagt, er hätte dieses Tor lieber nicht gemacht", sagt sein Mitspieler Marcel Schmelzer über das Finaltor, das Götze wohl Zeit seines Lebens begleiten wird. Kann es einen noch höheren Höhepunkt geben oder ist Mario Götze auf ewig dazu verdammt, an diesem Tor gemessen, über diesen Treffer definiert zu werden? Glücklicherweise sind die spannendsten Geschichten jene, die gerade noch geschrieben werden.

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