Ein Anwalt mit dunklen Geheimnissen

20.7.2015, 18:23 Uhr
Ein Anwalt mit dunklen Geheimnissen

© F.: Reuters

Es war Gregory Pecks größte Rolle. In der Verfilmung des Romans „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee verteidigt er als Anwalt Atticus Finch mutig einen jungen schwarzen Mann, der eine Vergewaltigung begangen haben soll. Schnell stellt sich heraus, dass ihm die Tat angehängt wurde. Unerbittlich wird die Verleumdungsklage vom moralisch integren Anwalt aufgedeckt. Gregory Peck erhielt dafür 1962 den Oscar.

Der Roman der 1926 in Alabama geborenen Harper Lee war ein Weltbestseller, in 40 Sprachen übersetzt, 40 Millionen Mal verkauft. Darin geht es um einen liebevollen Vater, der seinen Kindern das Leben erklärt und als Jurist tapfer für Recht und Gerechtigkeit steht. Das Buch begleitete ab 1960 den gesellschaftlichen Wandel in den USA, jeder Amerikaner kennt es. Aber bisher wusste niemand, dass es die geschönte Ausgabe war, die Überarbeitung der Autorin. Die erste Fassung ließ sich seinerzeit nicht durchsetzen. Das lag an der erhitzten Stimmung im Land, das von der Black Panther-Bewegung der Schwarzen, erschüttert wurde. Da passte es gut, dass ein weißer Anwalt ein guter Mann war.

Das war Atticus Finch aber nicht. In der ersten Fassung des Romans, 1957 bei Verlagen eingereicht und jetzt unter dem Titel „Gehe hin, stelle einen Wächter“ erschienen, wird die Geschichte von Finchs Tochter Jean Louise erzählt.

Sie lebt in New York, besucht ihren 72-jährigen Vater in Alabama. Dort in Maycomb lebt auch ihr Geliebter Henry, der in Finchs Kanzlei arbeitet, sie heiraten und in den Süden zurückholen will. Doch als Jean Louise begreift, dass beide Männer Kontakte zum Ku-Klux-Clan haben, springt ihr Fluchtreflex an. Im Gespräch mit dem Vater bekommt sie zu hören, „dass unsere Negerbevölkerung rückständig ist“ und separiert gehöre. „Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen und Kirchen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt?“

Solche und ähnliche Sätze müssen nun die Fans des Romans lesen. Für viele eine bittere Enttäuschung. Am ersten Verkaufstag standen in den USA lange Schlangen vor den Buchläden. Die New York Times schrieb von einem „der größten Ereignisse im Verlagswesen seit Jahrzehnten“. Seit gestern ist das Buch in Deutschland erhältlich. Harper Lee, heute 89, erklärt nicht, warum sie die Erstfassung 55 Jahre lang verschwieg. Nur die Anwältin, die das verschollene Ursprungsmanuskript aufgespürt haben soll, sagte, dass Harper Lee Ende der 1950er genötigt worden sei, den Roman umzuarbeiten. Sie verdiente Millionen mit der Erbauungsprosa. Ein Buch, von dem Talkmasterin Oprah Winfrey jubelte, es sei „our national novel“, der Nationalroman.

Indes: „Wer die Nachtigall stört“ ist der viel bessere Roman. Die Umarbeitung wurde Weltliteratur. „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist mühsam zu lesen. Man kämpft sich durch Rituale des Kleinstadtlebens in den Südstaaten, nervende Charakterstudien und Beschreibungen der Hauseinrichtung, bis endlich Atticus Finch auf den Plan tritt. Und mit ihm die Ernüchterung. Der gütige Vater und vitale Anwalt ist stockkonservativ. Er verdächtigt alle, die nicht wie die Weißen des Südens sind – Puerto-Ricaner, Italiener, Katholiken, Kommunisten sowieso.

Hier wird eine nationale Ikone gestürzt. Zur richtigen Zeit. Die Übergriffe und Todesschüsse von weißen Polizisten auf Afroamerikaner allein in diesem Jahr haben die Nation aufgeschreckt. Das Land muss sich seinen Widersprüchen stellen, und dazu gehört immer noch die Rassentrennung, die nur offiziell nicht mehr existiert.

Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter. Roman, aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. DVA, München. 320 Seiten, 19,99 Euro.

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