Ein poetischer Generationenroman

20.12.2016, 10:53 Uhr
Ein poetischer Generationenroman

© Schleyer

Und auf einmal ist er wieder da: Nach seinem fluchtartigen Verlassen des Elternhauses als junger Mann, nach gescheiterter Ehe und beruflichen Wirren anderswo, kehrt Werner Kapok in die Siedlung zurück. Die Lebensmitte ist nun überschritten, auch bei Barbara und Claudia Schaechter im Nachbarhaus, diesem durch einen Gropius-Schüler entworfenen Bau.

Mit den Schwestern verbindet Kapok nicht nur seine jugendliche, auch sexuelle Sozialisation. Das spannungsreiche Mit- und Gegeneinander der beiden Familien ist zudem durch seine zeitweilige Stasi-Tätigkeit belastet. Seine Rückkehr lässt die Fassade des bequemen, auch miefigen Postwende-Alltags der Protagonisten zunehmend bröckeln. „Die Zeit ist eine Dampframme“, heißt es ausdrucksstark an einer Stelle des Romans, und so führen neue und neue alte Lieben zur Wiederentdeckung sowohl der eigenen als auch der Geschichte der Familien – verschollen geglaubte Verwandte, Wendeprofiteure und Wendeverlierer inklusive.

Für ihren Roman „Du stirbst nicht“ erhielt Kathrin Schmidt 2009 den Deutschen Buchpreis. Ihr Thema damals: Kontrollverlust über den eigenen Körper nach einem Schlaganfall. Auch einige Figuren in „Kapoks Schwestern“ sehen sich durch Kontrollverlust bedroht, diesmal ist es der Verlust des selbstbestimmten Lebensweges im Zuge politischer Umwälzungen, durch ideologische und antisemitische Verfolgung.

Zurück bis ins 19. Jahrhundert strickt die Autorin den Stammbaum der jüdischen Familie Schaechter. Geschickt verknüpft sie die Einzelschicksale mit historischen Ereignissen wie dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dem NS-Terror in Wien, dem Holocaust oder dem Umgang mit Abweichlern in der frühen Sowjetunion.

Die letzte Schaechter-Familie verschlägt es schließlich als sozialistisch geprägte, religiös undogmatische Juden in die Siedlung „Eintracht“. Die gemeinsame Arbeit der Eltern für eine DDR-Zeitung verbindet und konfrontiert sie fortan mit der linientreuen Familie Kapok.

Der Roman „Kapoks Schwestern“ ist dichte, anspruchsvolle Lektüre. Auf allen Handlungsfeldern überzeugt die in Gotha geborene Autorin mit kenntnisreichen Details. Ob Tscholent und andere jüdische Speisen, ob ideologische Verfolgung im stalinistischen Russland, ob Sprelacart-Möbel in der DDR oder der Werdegang des Kameramodels „Reflex Korell“.

Irgendwann sogar stellt sich beim Lesen ein vages Gefühl des Zuviel ein und man fragt sich, ob Episoden wie die Sudoko-Geschichte oder die Erfindung der Pappfahrkarten unbedingt noch Teil dieses Buches werden mussten. Zumal im Gegenzug wichtigere Handlungsstränge wie die Stricher-Karriere von Werner Kapoks Sohn als unverbindliche Andeutungen versickern.

Dennoch ist der Roman weit entfernt von trockener Geschichts- oder Problemkost. Dies liegt in erster Linie an seiner wortspielerischen Sprache, an Kathrin Schmidts ironischem Schreibstil mit hoher poetischer Ausdruckskraft. In vielen gelungenen Bildern wie „Die Totenstille übertönte das Dröhnen der Militärfahrzeuge“ oder „dicke gelbe Fußballsemmel“ für den Mond zeigt sich die Lyrikerin und Leonce-und-Lena-Preisträgerin.

Schade nur, dass immer wieder auch weniger Geglücktes, bisweilen manieristisch Gestelztes durch den Text stolpert. Statt „In einer offenbar körpereigenen Flüssigkeit aus Rührung und Inbrunst“ hätten es auch schlichte Tränen getan. Und ein „stählern anmutender Sporn“ in der Trainingshose sollte doch besser der einschlägigen Nackenbeißer-Literatur vorbehalten bleiben.

„Refugium“ des Alterns

Abgesehen davon: „Kapoks Schwestern“ ist eines jener Werke, die nach der Lektüre nachklingen. Eingedampft auf die Siedlung „Eintracht“, diesem Nachwende-„Refugium des Alterns“, vermag die zeitgeschichtlich weit ausladende Handlung nicht nur bei den Protagonisten, sondern auch bei seinen Ost- wie Westlesern immer wieder Erinnerungen und biografisch bedingte Emotionen zu wecken. Und dazu die Frage nach Schuld und Verantwortung.

Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 448 Seiten, 22 Euro.

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