Eine Revolution mit der Leuchtkraft des Geistes

8.11.2018, 08:00 Uhr
Eine Revolution mit der Leuchtkraft des Geistes

© Archivfoto: SZ-Photo

Im Norden Bayerns arbeiteten längst die geflüchtete Regierung und reaktionäre Kräfte, auf die die Nationalsozialisten später so sicher bauen konnten, an ihrer Wiederkehr, während unten im Land eine kleine, eher wild-romantische Truppe sich anschickte, aus Träumen Wirklichkeit wachsen zu lassen, Utopia zu beschwören, verkrustete Herzen und Seelen zu öffnen.

Die "Leuchtkraft des Geistes" sollte über das Volk kommen, "das Menschliche" im Politischen den Ton angeben. Deutschland, das demoralisiert die Kriegsniederlage in den geschundenen Knochen spürte, sollte wieder aufstehen. Aber nicht, um Rache zu üben und neue Schandtaten anzuzetteln, sondern um das Gute, Schöne und Wahre zu verkörpern, in die Welt zu tragen.

Man muss sich das einmal vorstellen: Ein neuer Regierungschef stellt sich hin und sagt: "Die Kunst ist nicht mehr Flucht aus und vor dem Leben, sondern das Leben selbst. Wenn die Menschheit durch den Kampf des proletarischen Sozialismus befreit und gereift, dereinst an dem Weltrhythmus der Neunten erzogen wird, wenn sie zum Katechismus ihrer Seele wird, dann erst ist Beethovens Kunst zur Heimat zurückgekehrt, aus der sie floh: dem Leben."

Kurt Eisner, der feinsinnige Theaterkritiker, hatte "seine Weltsekunde so schnell erkannt und entschlossen ergriffen", (so Volker Weidermann in seinem Buch "Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen") und war durch die Revolution 1918 buchstäblich über Nacht an die Spitze des bayerischen Freistaates gekommen. Da hatte er nichts weniger im Sinn als an Beethoven und dessen neunte Sinfonie zu denken!

Wenn man heute die Europa-Hymne mit jener Schillerschen "Ode an die Freude" beiläufig hingeschmettert hört, denkt man kaum mehr an die tiefe Sehnsucht dieses kleinen, wirr-bärtigen Mannes, diesen Ministerpräsidenten wider wirklich realistischem Willen, dem die Musik soviel mehr war als eine repräsentative Staatsmelodie. Eisner sah in dem Stück das Los seines Landes vertont: Die Klänge malten für ihn "die Ungeheuerlichkeiten eines tyrannischen Wahnsinns. Die Welt scheint im Abgrund versunken, zerschmettert. Plötzlich tönen aus Dunkel und Verzweiflung die Trompetensignale, die eine neue Erde, eine neue Menschheit, eine neue Freiheit ankündigen." Dieses Kunstwerk schaffe "in prophetischer Voraussicht die Wirklichkeit, die wir eben erlebt."

Prophetische Voraussicht — wir tun uns heute leicht, diese wenigen Monate bayerischer Revolution und Räterepublik (exakter kurzer Zeitraum: 7. November 1918 bis 30. April 1919), in der die Schriftsteller und Schöngeister an der Macht waren, regierten statt rezitierten – diesen Spätherbst des demokratischen Missvergnügens und kurzen Winter der hoffnungsvollen Anarchie als eine historische Episode zu betrachten, der wir Respekt zollen, die wir aber auch nicht so richtig ernst nehmen. Seinerzeit waren Menschen wie Kurt Eisner, wie die Dichter Ernst Toller und Oskar Maria Graf, die Denker Gustav Landauer und Erich Mühsam, die alle vom Wort kamen und das Wort Menschlichkeit werden lassen wollten, beseelt von ihrem Auftrag – den ihnen freilich niemand tatsächlich erteilt hatte.

Sie fühlten sich vielleicht nicht unbedingt in der Lage (Überheblichkeit lag ihnen fern) und dennoch berufen, einem Land, das aus den Sümpfen der Schlachten kam, das hungerte und suchte, das gemieden und angefeindet wurde ringsum in Europa, diesem "kriegserschöpften, politisch völlig unerfahrenen Volk", so Volker Weidermann, etwas zu bringen, was es so noch nie erlebt hatte: permanente Demokratie.

Die Dichter führen das Volk? Mit Beethoven in ein neues Leben? Es sind viele Zufälle, die in diesen Monaten ausgerechnet Individuen, die eigentlich dafür bestimmt sind, im stillen Kämmerlein Gedichte, Prosa, Theaterstücke zu schmieden, wie Arbeiter im Klassenkampfe an die Spitze eines desolaten Staates katapultieren. Sie wollen etwas tun, was weit über ihre Schreibtisch-Träumerei hinausgeht und sie gehen ans Werk mit einem festen Glauben an die – so hoffen sie noch – nur von Kriegsschutt verschüttete Moral in ihren Mitmenschen. Wachrütteln mit Worten, überzeugen mit Taten: Unermüdlich stehen Eisner und Toller vor den Massen in den Bierschenken, auf Münchner Plätzen und in Landkäffern und reden vom Sozialismus, von der Freiheit. Und irgendwo da hinten ist die Morgenröte! "Schritt für Schritt / O Freund, geh mit!", ist der ebenso verklärte wie revolutionäre Aufruf in Gedichtform, den Eisner, dieser sozialistische Märchenkönig auf Abruf, in den wenigen Wochen zwischen seinem Aufstieg und seiner heimtückischen Ermordung am 21. Februar durch einen Grafen zu Papier bringt.

Sie hatten zunächst zu ihm gehalten: Der urbayerischste Poet, Oskar Maria Graf, dichtet "und läuft in der Revolution" wie ein aufgeregtes, tatenwütiges Huhn herum; der feinsinnige Rainer Maria Rilke schreibt ganz unlyrisch: "Ich gehöre zu den Jungen, die die Zuversicht dieses neuen Anfangs für ihr Recht (...) halten"; der noch blutjunge Klaus Mann ergeht sich zukunftssüchtig in einem Drama über seinen Helden Eisner.

Doch da war auch schon immer die Skepsis. Revolution und Räte, das war nichts, womit man in Deutschland, namentlich im tiefsten Bayern viel anfangen wollte. Die Bauern wendeten sich ab und wieder den Bierkrügen zu, die Konservativen bereiteten in Nürnberg und Bamberg den Gegenschlag vor, der geflohene König grummelte vor Selbstmitleid. Politisch standen diese Sozialisten nicht nur im Kreuzfeuer der gegnerischen Konservativen, Königstreuen und Freikorpsler, auch die angepassten Sozialdemokraten, die unzufriedenen Kommunisten machten ihnen das Leben und den Aufbau einer neuen Gesellschaft schwer bis unmöglich.

Von Kriegsschuld wollte niemand etwas hören, europäische Versöhnung lag den meisten fern, Demut war Schmach. Ehrliches Eingeständnis und hehre Versprechungen, wie sie zwischen zwei Buchdeckeln, aber in keinem schnöden Aktenordner Platz finden würden.

Nein, man nahm sie schon damals nicht wirklich ernst. Klaus Manns berühmter Vater Thomas haderte und meckerte zwischen Gänsekeule und Nachtisch über die "jüdischen Literaten" und "albernes Pack" in der neuen Regierung. Die hochverehrte Ricarda Huch sah die Zweifel der Urbayern: "Sie verstanden Eisner nicht, so wenig wie er sie verstand. Wie sollten sie auch? Es war kein Tröpfchen und Körnchen königlich-bayerischer Gemütlichkeit, Roheit, Schlamperei und Gutmütigkeit in ihm."

Oskar Maria Graf in Lederhose und ständig am Humpen: "Diese Münchner Revolution war ein Gaudium für ihre Gegner. Sie war langweilig, sie war harmlos, sie war unerträglich. Sie war eine Posse, und noch dazu eine schlechte." Selbst Gustav Landauer, der verrückte Bohemien, der ein Regierungsprogramm wollte, das nach Hölderlin klingt, und den man bald erschlug wie einen Hund, schwankte in dieser aufgeregten Zeit zwischen Melancholie und Hoffnung: "Lässt man mir ein paar Wochen Zeit, so hoffe ich, etwas zu leisten, aber leicht möglich, dass es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum."

Eine Revolution mit der Leuchtkraft des Geistes

© Eva Jünger

Das unscheinbare Wörtchen "Traum", es kommt sehr oft vor in diesen Tagen politisch sich überschlagender Ereignisse, die wie eine nicht zu Ende inszenierte Theateraufführung wirken. Die Rollen der Verantwortung sind nicht richtig verteilt, die ziselierten Texte widersprechen der brutalen Realität, die kein Gedicht mehr ist, sondern alltäglich, völlig unpoetisch, mit Hunger und Unmut, Gewalt und Denunziation.

Da kapitulieren die Schöngeister auch vor einem Volk, das sich keine gedrechselten Reime ums Maul schmieren lassen will und dem das Sozialistische im Bayerischen schon immer irgendwie übel aufstieß: "Verjudeter roter Karneval!", hieß es. Ernst Toller, selbst kurz zum Regierungschef bestimmt, erkennt das Problem im "deutschen Arbeiter", für den er stritt und der doch "zu lange an Gehorsam gewöhnt" war: "Er will gehorchen, Brutalität hält er für Stärke, autoritäre Herrengeste für Führertum, Ausschaltung eigener Verantwortlichkeit für Disziplin, vermisst er die gewohnten Ideale, glaubt er, das Chaos breche an."

Tatsächlich kam dann das Chaos über Deutschland, später, die Lunte wurde aber schon in diesen Wochen der Jahre 1918/1919 gelegt, als man die Räterepublik von der Tagesordnung strich mit Schüssen und purer Gewalt: 606 Tote gab es bei den Kämpfen; mehr als 2000 Unterstützer der Revolutionäre wurden in der Folge standrechtlich erschossen oder inhaftiert.

Nach der Niederschlagung sitzt in Fürth in der Unteren Fischergasse der linke Publizist Fritz Oerter in seiner kleinen Leihbücherei, der blitzgescheite Zeitanalysen für anarchistische Blätter verfasst, und schreibt desillusioniert an seinen Freund Erich Mühsam (den die Nazis später im KZ umbringen werden): "Wir alle täuschen uns in der Psychologie der Massen. Wir glauben sie fähig, sozialistisch zu denken und zu handeln. Ich glaube, ein von der Sozialdemokratie noch unverbildetes und ursprüngliches Volk wäre vielleicht zu besseren Resultaten gelangt. Aus der Perspektive von heute gesehen, war die Räterepublik ein Versuch am untauglichen Objekt (...) Auch wir in Fürth hatten vier Tage Räterepublik (...) Es ist nichts daraus geworden und am vierten Tage wurden die Räterepublikaner von den Sozialdemokraten im Arbeiterrat überstimmt. Damit wurde die Räterepublik in Fürth höchst gemütlich begraben. Du siehst, was in München sich zur fürchterlichen Tragödie entwickelte, ward in Fürth zur Posse."

Heute liest der Literaturkritiker und Autor Volker Weidermann, bekannt auch als Gastgeber des Literarischen Quartetts, im Rahmen der "LesArt" in Lauf aus seinem Buch "Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen", (Kiepenheuer & Witsch 2017). Im Stil einer Reportage führt er durch die Ereignisse und beleuchtet die Rollen von Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Rainer Maria Rilke, Victor Klemperer und anderen. (20 Uhr, Bertleinaula, Martin-Luther-Str. 2, Lauf)

Hans Well, bekannt als Volksmusik-Kabarettist (früher Biermösl Blosn), hat ein gelungenes Hörspiel über "Die Rote Revolution" produziert (Der Hörverlag). Mit namhaften Sprechern wie Gisela Schneeberger lässt er Kurt Eisner und seine Mitstreiter in zeitgenössischen Texten und einer Rahmenhandlung aufleben.

Das Kulturportal "bavarikon" hat eine Online-Ausstellung zum Thema zusammengestellt. Unter bavarikon.de/revolution1918 sind 90 Exponate aus zehn Kultureinrichtungen zu sehen, viele Druckwerke und Fotos geben einen Eindruck von der Stimmung der Zeit. Die Bayerische Staatsbibliothek, das Haus der Bayerischen Geschichte und die Bayerischen Staatsarchive haben dafür ihre Quellen bereitgestellt.

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