Entscheidungen über Leben oder Tod

25.1.2015, 13:19 Uhr
Entscheidungen über Leben oder Tod

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Fiona Maye ist nicht in der allerbesten Verfassung, als der Leser sie zu Beginn von „Kindeswohl“ kennenlernt: In der Hand den zweiten Scotch mit Wasser, versucht die Richterin am Londoner High Court, mit einem veritablen Schock klarzukommen. Ihr Mann Jack, ein Geschichtsprofessor, hat ihr eröffnet, dass er mit seinen 60 Jahren noch einmal wahre sexuelle Leidenschaft erleben will. Mit einer 28-jährigen Statistikerin. Dafür hätte er gerne die Erlaubnis seiner Gattin, die er liebt, wie er beteuert.

Ein notgeiler Schuft, könnte man denken. Doch auch bei der Rahmenhandlung ergreift Ian McEwan keine Partei. Denn je näher man als Leser der eigentlich so unnahbaren Fiona im Laufe der Geschichte kommt, desto mehr versteht man auch, warum Jack sich fühlt, als würde er an der ausgestreckten Hand verhungern.

Denn Fiona geht ganz in ihrem Beruf auf. Und eigentlich geht es in „Kindeswohl“ nur am Rande um die Frage, ob die Ehe der Richterin diese Krise überdauert. Ian McEwan, der 1978 mit „Der Zementgarten“ schlagartig berühmt wurde und seither zahlreiche Bestseller veröffentlicht hat („Abbitte“), interessiert sich in „Kindeswohl“ vielmehr für Recht versus Gerechtigkeit versus Religion — und verhandelt damit natürlich ein Thema, das aktueller nicht sein könnte.

„Am Familiengericht wimmelte es von seltsamen Meinungsverschiedenheiten, Berufungen auf Sonderfälle, vertraulichen Halbwahrheiten und bizarren Anschuldigungen“. In dieser Welt bewegt sich Fiona. Und alle Fälle, die Ian McEwan seiner Protagonistin auf den Schreibtisch legt, haben etwas mit der Religion zu tun.

Streit über Erziehung

Da ist das jüdische Ehepaar, das sich bei der Scheidung darüber streitet, wie orthodox oder eben auch nicht die Töchter erzogen werden sollen. Da ist die Mutter, die befürchtet, dass ihr Ex-Mann, ein strenggläubiger Muslim, die Tochter entführt.

Und da ist der Fall der siamesischen Zwillinge, der Fiona nicht loslässt. Die Eltern der Kinder, fromme Katholiken, verweigern die Zustimmung zur Trennung der Jungen. Denn der Schwächere, das ist von vorneherein klar, wird bei dem Eingriff sterben. Überlässt man sie jedoch ihrem Schicksal, überleben das beide nicht. Fiona entscheidet, dass die Operation stattfinden soll — und wird danach mit den „giftigen Gedanken der Gottesfürchtigen“ bombardiert.

Der Brite McEwan hat auch für „Kindeswohl“ wieder akribisch recherchiert. Er packt viel von diesem Wissen hinein in den schmalen Roman — und verteilt die Fälle fair auf alle Konfessionen. Während Fiona nach der unmoralischen Fremdgeh-Anfrage ihres Mannes mit Eifersucht, Zorn und Leere kämpft, erreicht sie ein Notfall: Adam, fast 18, ist auf rettende Bluttransfusionen angewiesen, die ihm die Eltern, Zeugen Jehovas, aber verweigern. Und der Junge selbst gefällt sich in der poetischen Rolle des Märtyrers, der für seinen Glauben stirbt. Fiona muss entscheiden, ob sich das Krankenhaus über den Willen der Familie hinwegsetzen darf.

McEwan lässt kein Für und kein Wider aus — und da er dem Leser nicht verrät, was genau in Fionas Kopf vorgeht, erzeugt er bis zum endgültigen Urteil der Richterin unglaubliche Spannung. Damit ist der Fall jedoch noch lange nicht zu Ende. Denn manchmal hat man, egal welche Option man wählt, am Schluss so oder so das Falsche getan.

So juristisch und doch so menschlich geht es zu in Ian McEwans Buch. Wie komplex sowohl Recht und Gesetz als auch unsere ganz individuellen Befindlichkeiten sind und was passiert, wenn beide aufeinandertreffen — das lotet der Autor sprachlich brillant, klug und ohne zu belehren aus.

Ian McEwan: Kindeswohl. Roman, aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich, 224 Seiten, 21,90 Euro

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