Glauben in gottlosen Zeiten

22.5.2016, 18:53 Uhr
Glauben in gottlosen Zeiten

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Ist das nun ein Sachbuch, ein Roman oder eine Autobiografie? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall handelt es sich um ebenso anspruchsvolle wie spannend zu lesende Literatur. Ein dicker Brocken, der den Leser bis zum Schluss fesselt und reichlich Stoff zum Nachdenken bietet. Ein in Frankreich viel diskutiertes Buch, das in Zeiten des wieder erwachten Interesses an Religion wie gerufen kommt.

Emmanuel Carrère (Jahrgang 1957) hat eine ganz eigene Methode entwickelt, die man Autofiktion oder Dokufiktion nennen könnte. Seine unbekümmerte, sehr persönliche Art mit historischen Quellen umzugehen, private Erlebnisse mit Leseerfahrungen zu verknüpfen, macht dabei den Reiz aus. Das ist wissenschaftlich nicht korrekt, aber dennoch seriös. Und man merkt, dass er Erfahrungen als Drehbuchautor hat: Geschickt montiert er einzelne Szenen, malt sich die handelnden Personen aus und weiß, wie man Spannung erzeugt.

Persönliche Lebenskrise

Carrère ist ein vom Glauben abgefallener Katholik, der verstehen möchte, was Gläubige am Christentum bis heute so fasziniert. Darüber hinaus geht es ihm um das Verhältnis des Abendlandes zur Religion und seinen christlichen Werten.

In den 90er Jahren steckte Emmanuel Carrère in einer Lebenskrise. „Ich konnte nicht mehr schreiben, ich verstand nicht zu lieben, und mir wurde bewusst, nicht liebenswert zu sein“, schreibt er. „Ich zu sein, wurde mir buchstäblich unerträglich.“ Aus der Depression rettete ihn seine Patentante, eine überzeugte Katholikin, die ihm tägliche Bibellektüre empfahl und ihm so das Christentum nahebrachte. Der Linksintellektuelle wandelte sich zum dogmatischen Katholiken, der täglich zur Messe ging und jahrelang ein Glaubenstagebuch führte. Parallel dazu unterzog er sich einer Psychoanalyse.

Leicht ironisch, mit ungläubigem Staunen blickt Carrère auf diese Phase seines Lebens zurück. Um zu begreifen, was damals mit ihm passiert ist, nimmt er sich nicht nur seine alten Tagebücher vor, sondern auch die Urschriften des Christentums. Vor allem Paulus und Lukas haben es ihm angetan. „Lukas ist ein gebildeter Grieche, der sich von der Religion der Juden angezogen fühlt. Seit seiner Begegnung mit Paulus, einem umstrittenen Rabbi, der seine Anhänger dazu bringt, in einem Zustand schwärmerischer Begeisterung zu leben, ist er ein Weggefährte dieses neuen Kultes geworden, einer hellenisierten Variante des Judentums, für die man den Namen Christentum noch nicht kennt.“

In aller Ausführlichkeit beschreibt Carrère an Hand seiner Quellen (Evangelien, Apostelgeschichte sowie zeitgenössische Chronisten wie Tacitus, Sueton, Plinius der Jüngere und Flavius Josephus) die Entstehung der urchristlichen Gemeinden in Kleinasien, Griechenland und Rom.

Zugleich schildert er die beginnenden Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit und den Aufbau hierarchischer Strukturen. Außer Frage steht für den Autor, dass Jesus Christus und seine „Auferstehung“ für etwas radikal Neues, für die Umwertung aller bis dahin gültigen Werte steht. Immer wieder stellt er Bezüge zur Neuzeit, insbesondere zum Kommunismus her.

Über lange Strecken fesseln einen die unterhaltsamen Schilderungen und peniblen Studien Carrères, das vorsichtige Herantasten und Abwägen. Erst im letzten Drittel verzettelt er sich bei der Rekonstruktion der historischen Ereignisse allzu sehr in Details und wird weitschweifig.

Ich ist ein Anderer

Was dieses Buch so besonders macht, ist die entwaffnende Offenheit und Lockerheit, mit der hier schwierige Glaubensfragen behandelt werden. Das literarische Ich, das im Zentrum steht, ist inzwischen ein Anderer. Emmanuel Carrère bezeichnet sich nun selbst als Agnostiker, also als jemanden, der die Existenz Gottes nicht leugnet, aber für unbeweisbar hält. Einfache Wahrheiten hat der Nietzsche–Verehrer nicht parat.

Die inneren Kämpfe sind es, die die Sinnsucher aller Zeiten miteinander verbinden. Saulus, der sich zum Paulus wandelte, ebenso wie den ehemaligen Katholiken Carrère, der am Ende eine eindeutige Antwort schuldig bleibt. Aber seine ungewöhnlichen Bibelstunden sorgen für geistige Anregungen und klingen lange nach.

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin. 524 Seiten, 24,90 Euro.

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