In der Quelle gedeiht Kultur

8.10.2012, 13:00 Uhr
In der Quelle  gedeiht Kultur

© Stefan Hippel/Michael Müller

„Kommen Sie, Sie werden staunen“, sagt Tanzlehrerin Christina Bauerreiß am Telefon und schwärmt über ihr neues Arbeitsdomizil im ehemaligen Quelle-Versandhaus. Ihrer freundlichen Aufforderung nachzukommen, ist aber gar nicht so einfach. Vorne, zur Fürther Straße hin, sind die Läden, das Café und die neue Tanzschule zwar einladend geöffnet, wer aber tiefer einsteigen will in die Quelle, der darf sich nur auf vorgeschriebenen Pfaden bewegen und braucht Begleitschutz. Für sich selbst, weil man sich auf den 250.000 Quadratmetern auf fünf Stockwerken leicht verläuft – und für das Gebäude. „Man kann sich die Dimensionen hier nicht vorstellen. Läuft man das gesamte Gebäude ab, kommt man auf 12 Kilometer“, sagt Herbert Oppelt, der mit seinen Leuten für die Sicherheit und den Brandschutz verantwortlich ist. Und seine Aufgabe wird mit jedem neuen Mieter komplexer.

In der Quelle  gedeiht Kultur

Mit seiner Band „Heartbreakers“ ist Sicherheitsfachmann Oppelt privat selbst Mieter in der Quelle. Und damit in guter kreativer Gesellschaft. „Ich schätze, dass mittlerweile rund 30 Musikgruppen hier Übungsräume haben, es gibt Tonstudios, Ateliers von Künstlern, Grafikern und Designern, eine Glaswerkstatt, eine Schreinerei und auch eine Graffiti-Akademie“, sagt Sabrina Bohn, Mitarbeiterin im Stadtteilbüro Weststadt.

Bei jedem ihrer Besuche entdeckt selbst die Weststadt-Expertin Neues in der Quelle. Auch Spirituelles: Gerade hat eine Kirchengemeinde hier Räume bezogen und hält sonntags Gottesdienste ab, Schauspielpädagogin Maja Ludwig gibt jetzt Sprech- und Rollentraining und Musiker Robert Chimelli trommelt neuerdings seine Percussion-Gruppe in der Quelle zusammen. Insgesamt sind inzwischen rund zehn Prozent der Fläche vermietet. Das klingt nicht viel, es handelt sich aber immerhin um 25.000 Quadratmeter. Und viele Räume sind erstaunlich gut in Schuss, so als wären die ehemaligen Mitarbeiter, für die die Pleite der Quelle eine Katastrophe bedeutete, vor kurzem erst ausgezogen. Selbst traurige Zimmerpflanzen stehen vereinzelt noch herum.

„Vor einem Jahr war die Stimmung hier depressiv, wie eine Totenstadt. Inzwischen hat sich viel getan“, sagt Brandschutz-Experte Oppelt, der Tag für Tag auf dem Gelände ist. Holger Kastl, der hier kürzlich einen Fachhandel für Autorennbahnen eröffnet hat, schwärmt: „Die Räume sind gigantisch.“ Sie haben für die Nutzer aber auch einen gravierenden Haken: Weil das Gebäude unter Zwangsverwaltung steht, kann trotz fünfjährigem Mietvertrag jederzeit das Aus drohen, falls die Immobilie veräußert wird.

Wer hier reingeht – sei es in die bis zu 10.000 Quadratmeter großen Hallen oder die 35 Quadratmeter kleinen ehemaligen Büros – über dem hängt also ständig das Damoklesschwert der kurzfristigen Kündigung. Das erklärt die zurückhaltende und damit verantwortungsbewusste Vermarktung durch den Zwangsverwalter. Dem nützt aber auch ein totes Gebäude nichts. Wenn der „Mythos Quelle“ durch sanfte Wiederbelebung des Hauses am Leben gehalten wird, bleibt das Objekt auch für potenzielle Käufer interessant.

In der Quelle  gedeiht Kultur



Investitionen überlegt man sich unter diesen Voraussetzungen aber drei Mal. Andererseits sind die Mieten für Ateliers mit 3 bis 3,50 pro Quadratmeter verlockend günstig und Kulturschaffende oft an Zwischennutzungslösungen gewöhnt. Kreativität fördert Flexibilität, die Kunst scheut auch steinige Wege nicht. Und, so die Hoffnung vieler, wenn das Gebäude doch veräußert werde, sitze man an der Quelle der Information und gehöre zu den ersten, die mit dem neuen Eigentümer verhandeln können.

Süßigkeiten aus der Kantine

„Es gefällt mir hier und es ist billig“, sagt Mediendesigner Nakil Shabani und spricht damit wohl auch für seine Nachbarn im 5., dem obersten Stockwerk mit fantastischem Ausblick auf die Stadt. Alle Mieter hier arbeiten im weitesten Sinne im Designbereich. Einige davon sind noch Studenten und sind lieber gemeinsam in der „lockeren Atmosphäre“ der Quelle kreativ als einsam im stillen Kämmerlein oder an der quirligen Uni. „Es sind hier immer Leute, mit denen man gerne zusammen ist“, sagt Illustrator Felix Meyer, der kurz vor seinem Hochschul-Abschluss steht.

Neben den Jungspunden gibt es aber auch alte Hasen unter dem Dach der Quelle. Genauer gesagt in der ehemaligen Kantinen-Küche. Hier hat vor 150 Tagen Wolfgang Kiessling die stillgelegten Öfen, Kühlkammern und Spülmaschinen wieder angeschmissen und auf den chromblitzenden 450 Quadratmetern seine Patisserie-Werkstatt eröffnet.

Der Mann ist echt süß: Er hat das Buch „Patisserie international“ geschrieben, war Chef-Patissier auf dem Luxus-Liner „Queen Mary 2“ und hat schon so manchen Sultan, König und auch weiblichen Thronfolger mit seinen außergewöhnlichen Süßspeisen beglückt. Pralinen mit Leberwurst zum Beispiel oder weiße Schokolade mit getrockneten Tomaten. Regelmäßig lädt er zum Brunch in die Quelle und meint, dieser Ort sei „Nürnbergs heißeste Event-Location“.

Die nutzen auch immer mehr Kulturschaffende für temporäre Veranstaltungen. Gerade zeigt die Fotoszene Nürnberg in einer 10.000 Quadratmeter großen Halle ihre Jahresausstellung, es gab schon Modenschauen und einen Kunst-Supermarkt. Und manchmal weiß man nicht, was einen mehr beeindruckt: Das kulturelle Angebot oder der Ort, an dem es präsentiert wird.

Der liegt in Steinwurfnähe zu einer anderen ehemaligen Industrie-Brache, die inzwischen erfolgreich wiederbelebt wurde. Im kommenden Jahr, so kündigt der zuständige Projektentwickler Bertram Schultze an, werde das alte AEG-Areal komplett wieder vermietet sein. Auch hier war die Kultur ein Motor. 35 Prozent aller Neu-AEG-ler kommen aus dem Bereich der Kultur-und Kreativwirtschaft. Sie fanden „Auf AEG“ sicherere Voraussetzungen für ihre Ansiedlungen vor als die Kollegen in der Quelle. Aber ein bisschen etwas von diesem Aufbruchsgeist scheint über die Fürther Straße gewandert zu sein.

Keine Kommentare