Man muss sich ja nicht auf ewig binden

31.12.2012, 00:00 Uhr
Man muss sich ja nicht auf ewig binden

© Stefan Hippel

Alle drei Monate ist der Platz an der Wand über dem großen Ecktisch bei Dechents wieder leer. Aber nicht lange. Dann kommt das nächste Bild an den prominenten Platz in der Wohnung der Familie aus Nürnberg. „Kunst auszuleihen ist prickelnd und eine wunderbare Sache. Jedes Bild verändert den Raum, man lebt mit ihm wie mit einem Gast zusammen — und verabschiedet sich dann wieder, um einen neuen aufzunehmen“, schwärmt Patrick Dechent. Seit zehn Jahren ist er Kunde in der Nürnberger Artothek, die es seit über 20 Jahren gibt.

950 Werke sind dort im Bestand, wobei rund 80 Prozent der Gemälde, Grafiken und Fotografien ständig unterwegs sind. Das muss auch so sein, denn der Lagerplatz im Untergeschoss des Nürnberger Künstlerhauses ist gering. Das Verzeichnis der Künstler, die mit Arbeiten in der Kunstverleihstelle vertreten sind, liest sich wie ein Who’s who der regionalen Szene: von A wie Peter Angermann bis Z wie Fred Ziegler. „Für mich ist die Idee einer Artothek auch deswegen so faszinierend, weil man mit den Werken von Künstlern in Berührung kommt, die man nicht unbedingt auf Einzelausstellungen findet“, berichtet Raymund E. Horch, Arzt aus Erlangen und Stamm-Ausleiher in Nürnberg.

Förderung der regionalen Szene

„Unser Ziel ist auch die Förderung der regionalen Szene. Diesen Auftrag nehmen wir sehr ernst“, sagt Artothek-Chefin Anette Stufler. Für rund 10000 Euro kauft der Verein, der von der Stadt mit jährlich rund 30000 Euro gefördert wird, Kunstwerke an. Die Obergrenze für Anschaffungen liegt pro Bild bei 850 Euro. Viele Künstler geben der gemeinnützigen Einrichtung aber auch Sonderpreise.

„Oft sind es die Künstler, die dafür sorgen, dass es in Städten und Gemeinden Artotheken gibt“, betont Johannes Stahl, Vorsitzender des Deutschen Artothekenverbandes mit Sitz in Eckernförde. Rund 140 Kunstleihstellen gibt es im Bundesgebiet. „Die Zahl der Neugründungen übersteigt die Anzahl der Schließungen“, sagt Stahl. Gerade kleine Städte würden sich derzeit für Kunstleihstellen einsetzen. „Viele machen ihre über Jahrzehnte gesammelte Kunst-Kollektion so der Öffentlichkeit zugänglich“, hat Stahl beobachtet. „Und auf dem platten Land ersetzen Artotheken auch das Kunstmuseum.“

Die Trägerschaften sind dabei ganz unterschiedlich: Gerne gliedert man Kunstleihstellen an Museen, Volkshochschulen oder Bibliotheken an, manche sind privat geführt, andere als Kunstverein oder städtische Dienststellen. Dem Nutzer dürfte die Organisationsstruktur egal sein, Hauptsache er oder sie bekommt den gewünschten Service beim Tapetenwechsel.

Die Preise und Leihbedingungen variieren geringfügig. In Nürnberg etwa zahlt man für ein entliehenes Kunstwerk 9 Euro und darf es drei Monate lang behalten. Firmen, die ihre Geschäfträume mit Leihkunst aufpeppen, zahlen 18 Euro pro Werk. Für Schüler und Studenten gibt es Ermäßigung. Ausleihberechtigt sind über 16-Jährige aus dem Großraum Nürnberg und der Metropolregion.

„90 Prozent unserer Kunden sind Privatleute“, sagt Anette Stufler. Das Spektrum der Nutzer gehe quer durch alle Gesellschaftsschichten. Früher war die Zahl der Werke, die man mitnehmen durfte, beschränkt. Inzwischen darf man nach Lust und Laune auswählen und so viel einpacken lassen, wie man möchte. „Ich bin sehr spontan und lass’ mich immer überraschen, was so da ist. Ich musste noch nie ohne etwas nach Hause gehen“, erzählt Angelika Biersack, seit über 20 Jahren Kundin bei Stufler. Deren Klientel kommt aus der ganzen Metropolregion.

Das relativ große Einzugsgebiet der Nürnberger Einrichtung ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Artothekendichte in Bayern wesentlich geringer ist als zum Beispiel in Berlin oder Nordrhein-Westfalen. „Im Freistaat gibt es mit zehn Artotheken verhältnismäßig wenige. Bayern ist hintendran“, stellt Johannes Stahl fest. Woran das liegt? „Vielleicht an konservativem Denken bei der Frage, was zu den kommunalen Aufgaben gehört“, meint er. Außerdem sei der Umgang mit Kultur in Bayern „nicht unbedingt aufs Zeitgenössische ausgerichtet“.

In Aschaffenburg hat in diesem Jahr eine Kunstleihstelle eröffnet. In der Metropolregion gibt es eine in Treuchtlingen und eine in Windischeschenbach. „Wir haben rund 500 Werke im Bestand und einmal monatlich geöffnet“, erklärt Jutta Neugirg aus Windischeschenbach. Die Kollegin in Treuchtlingen musste jetzt vorübergehend schließen. „Wir haben im Moment ein Raumproblem, zweitens war die Nachfrage in letzter Zeit sehr schleppend“, sagt Renate Gehrcke. Das Angebot sei „in der breiten Bevölkerung noch zu wenig bekannt“.

Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen, organisiert Anette Stufler auch den Verkauf der Werke, wenn die Kunden das wünschen. So wie Rainer Kranabetter. Seit einem Jahr nutzt der Nürnberger das Angebot der Artothek und kommt kurz vor Weihnachten vorbei, um sich und seiner Frau ein Geschenk zu machen: Eine Druckgrafik von Christina von Bitter, die sie im Frühjahr ausgeliehen hatten, hat es ihnen angetan.

Mit Galerien abgestimmt

Der Verkauf ist zwar ein zweites Standbein der Artothek, Anette Stufler sieht sich aber nicht als Konkurrenz zu den Galerien. „Wie stimmen Verkäufe immer mit den Künstlern und ihren Galerien ab.“ Der Nürnberger Galerist Klaus Bode sieht die Artothek deshalb auch nicht als Konkurrenz, sondern für das breite Publikum als „wichtigen Türöffner in die Welt der Kunst“.

Den nutzt die Familie Pullen aus Fürth auch für die Erziehung des Nachwuchses. „Kinder können sich viel eher eine Meinung zum Thema Kunst bilden, wenn die Bilder daheim wechseln, als wenn immer dasselbe an der Wand hängt“, meint Sabine Pullen. Seit 15 Jahren leiht sie bei Anette Stufler und meint: „Man kann sich hier auch mal etwas Verrücktes mitnehmen, was man niemals kaufen würde.“ Inzwischen suchen aber auch immer häufiger die Kinder aus: „In einer demokratischen Familie muss jeder mal zum Zug kommen.“

Infos zu Artotheken allgemein: www.artothek.org — zu der Nürnberger: www.artothek-online.de

 

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