Mit dem Zeichenstift zurück ins Leben

30.12.2016, 12:20 Uhr
Mit dem Zeichenstift zurück ins Leben

© Foto: Carlsen

Catherine Meurisse hält ihr Buch in der Hand, das es eigentlich gar nicht geben sollte – so sagt sie es selbst. „Die Leichtigkeit“ heißt es und erzählt eine bewegende Geschichte: ihre eigene. Nie hätte sie es geschrieben, wäre der 7. Januar 2015 ein Tag wie viele andere gewesen. Sie hätte verschlafen, gequält von ihrem Liebeskummer; wäre dann verspätet zur Redaktionskonferenz von „Charlie Hebdo“ erschienen und hätte mit den Kollegen Scherze gemacht. Wie sonst auch.

Zwar kam Meurisse tatsächlich zu spät zur Arbeit – aber dort lachte niemand mehr. Was genau sie an diesem Tag erlebt hat, möchte sie nicht erzählen. Zwei Terroristen waren zuvor bis zur Redaktion vorgedrungen und hatten ein Blutbad angerichtet. Insgesamt zwölf Menschen ermordeten sie, darunter legendäre französische Karikaturisten wie Cabu (Jean Cabut) und Tignous (Bernard Verlhac). Dieser Racheakt an dem Satireblatt erschütterte Frankreich tief.

Während Millionen Menschen das Motto „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“) verbreiteten, sah Meurisse nicht vordergründig ein politisches Attentat, sondern ein „Massaker“ an ihren Kollegen, die Freunde waren. Seit zehn Jahren hatte sie als Karikaturistin für das Satireblatt gearbeitet und dort unter anderem gelernt, sich „der Freiheit und des Humors zu bedienen“, wie sie es ausdrückt. All das drohte ihr nach jenem verhängnisvollen 7. Januar verloren zu gehen.

„Das Massaker hat meine Identität zerbersten lassen, auch meine Identität als Zeichnerin“, sagt die 36-Jährige. „Nach dem Drama wusste ich nicht, ob ich noch weiter zeichnen konnte.“ Fast zwei Jahre später sitzt die Französin in einem Pariser Café und hält den Beweis dafür in der Hand, dass sie ihre Gabe, das Zeichnen, wieder gefunden hat. Im Frühjahr ist „Die Leichtigkeit“ in französischer Sprache erschienen, jetzt kommt die Graphic Novel, ein Comic in Buchformat, auch auf Deutsch heraus. Die erste Zeichnung, die sie Monate nach dem Attentat in zartem Pastell zu Papier brachte, ziert den Titel. Es ist ein Selbstporträt. „Ich klettere eine Düne hinauf, blicke dabei nur auf meine Beine und sehe überhaupt nicht, wohin ich gehe. Aber ich gehe“, erklärt Meurisse.

In feinen Strichen und auf sehr persönliche Weise beschreibt die Autorin ihre eigene Verlorenheit nach dem Anschlag. Lässt in ihrer Fantasie Cabu, Tignous und die anderen wieder aufleben. „Ich bin genauso tot wie meine Freunde oder sie sind genauso am Leben wie ich“, folgert sie. Sie erinnert sich an ihre Euphorie, als sie nach ihrem Studium der Literaturwissenschaft und dem Besuch zweier Kunsthochschulen in Paris ihren ersten Arbeitsvertrag in Händen hielt: Pressezeichnerin bei „Charlie Hebdo“! Und stellt dem eine Zeichnung gegenüber, wie eine Terrororganisation ihren Nachwuchs rekrutiert – als „Pressezeichnermörder“. Dabei interessiert sich Meurisse keineswegs für sie. „Meine ganze Wahrnehmung richtete sich stets auf den Tod meiner Freunde“, erklärt sie.

Inspiration in Rom

Empfindungen wie Wut, Melancholie und Kummer löse sie künstlerisch auf: „Das erscheint mir sehr viel interessanter als einen großen Schrei des Hasses auszustoßen.“ In ihrem autobiographischen Werk stellt Meurisse der Scheußlichkeit des Attentates die Schönheit der Kunst entgegen, lässt ihre unendliche Traurigkeit ebenso zu wie die hartnäckig bestehende Hoffnung, ein Gefühl der Leichtigkeit zurückzuerobern.

Sie geht nach Rom, nachdem die dortige Villa Medici, eine renommierte Künstlerunterkunft, ihr „politisch-künstlerisches Asyl“ gewährt. Dort, fernab von Paris, findet sie Ruhe, Inspiration und die Energie, ihr Buch fertigzustellen – das zu einer Art Selbsttherapie wird. „Die ersten Zeichnungen machte ich im Grunde, um meine Haut zu retten“, sagt Meurisse.

Heute arbeitet sie nicht mehr für „Charlie Hebdo“, hat sich von der Presse-Zeichnung verabschiedet und konzentriert sich ganz auf Fiktion. Auch in ihren künftigen Büchern, sagt sie, werde sie versuchen, ein Lachen wieder zu finden, „das voller Leben und das solide ist“. Jenes Lachen, das für „Charlie Hebdo“ und seine Macher so typisch war und ist – und das weiter erklingen soll.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit. Carlsen Verlag, Hamburg. 136 Seiten, 19,99 Euro.

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