Neneh Cherry: Sanfte Lieder mit klarer Botschaft

18.10.2018, 06:00 Uhr
Neneh Cherry: Sanfte Lieder mit klarer Botschaft

© Foto: Paul Bergen/dpa

Sie meldet sich aus dem Mutterschiff. So nennt Neneh Cherry, vor 54 Jahren geboren als Neneh Mariann Karlsson, das umgebaute Schulgebäude auf dem südschwedischen Land bei Hässleholm, in dem sie aufwuchs. "Ich war glücklich hier als Kind, und ich bin es noch immer. Viel verändert hat sich nicht. Alles in allem kann ich hier die Zeit anhalten und wieder Kind sein."

Vor dem Gespräch, so erzählt Neneh, habe sie mit ihrem Fahrrad eine "kurze aber knackige" Runde ums Grundstück gedreht. Cherrys Eltern — Mutter Moki war Künstlerin, Stiefvater Don Cherry ein bekannter Jazzmusiker — leben nicht mehr, und so ist sie jetzt die Matriarchin, die das Anwesen ein bisschen in Schuss hält. "Für alle in der Familie ist das Haus ein bedeutender Ort."

Neneh Cherry ist seit über 30 Jahren mit dem Produzenten Cameron McVey zusammen, sie haben zwei gemeinsame Töchter, aus einer früheren Beziehung stammt Tochter Naima. Alle Mädchen machen ebenfalls Musik, vor allem Mabel, die Jüngste und Einzige, die noch zuhause lebt, schickt sich an, ihrerseits Karriere zu machen. Nach Nomadenjahren in Malaga und New York ist der Erstwohnsitz heute London, wo Tochter Tyson auf dem Rad permanent ihr Leben riskiere, wie die Mutter erzählt. Fünf Minuten Telefonat mit Neneh Cherry, noch kein Wort über Musik oder ihre neue Platte und man hat den Eindruck, als kenne man die Frau schon ewig.

Aber so geht es ja auch nicht, also reden wir über "Broken Politics", ihr neues, erstaunlicherweise erst fünftes und wieder großartiges Album. Es kommt vier Jahre nach Nenehs Comeback mit "Blank Project", vor dem sie wiederum 18 Jahre nichts eigenes, sondern ausschließlich Kollaborationen gemacht hat. Cherrys große Hits "Buffalo Stance", "Manchild" und "7 Seconds" im Duett mit Youssou N’Dour stammen aus den späten 80er und frühen 90er Jahren, haben das kollektive Musikgedächtnis aber nie verlassen und hören sich bis heute zeitgemäß an. "In dieser langen Pause, die ich brauchte, um so vieles, etwa den Tod meiner Eltern oder die Geburt meiner Töchter, zu verarbeiten, hat sich viel Kreativität in mir aufgestaut", sagt Cherry. "Und ich bin so froh, dass ich meine Ideen und Gedanken durch meine ganz eigenen Kanäle fließen lassen kann. Ich muss auf niemanden Rücksicht nehmen, ich bin nicht auf Hits angewiesen, ich kann Songs machen, die mir im Kern entsprechen."

Songschreiben als Therapie

Verglichen mit dem Vorgänger, den sie vor allem mit dem Produzentenduo RocketNumberNine aufnahm, ist das mit Kieran Hebdan und ein wenig Hilfe von McVey sowie 3D von Massive Attack produzierte "Broken Politics" eine klar introspektive Songsammlung geworden. Die Lieder klingen eher sanft, auch die Beats sind soft und zurückhaltend, hier haut nichts rein, sondern wird klanglich eher gestreichelt. Besonders stolz ist Cherry auf die Mitwirkung des 83 Jahre alten Karl Berger, einem heute in den USA lebenden Jazzpianisten aus Heidelberg, der auf "Synchronized Devotion" ebenjenes Vibraphon ertönen lässt, "das er vor 50 Jahren mit meinem Vater Don spielte". Neneh Cherry sagt: "Ich möchte mit den Liedern kommunizieren, in einen Austausch treten. Das gelingt mir besser, wenn die Musik ruhig ist. Zudem habe ich gelernt, dass mich nichts so wirkungsvoll therapiert wie das Songschreiben, und in welcher Therapie schreit man sich schon an?"

Auf der anderen Seite: Die Texte. Cherry war immer schon Feministin, sie trat hochschwanger bei "Top Of The Pops" auf ("würde ich heute nicht mehr machen"), ihr gesamtes Erscheinungsbild zwischen Grazie und Tomboy war stets auch ein Statement, dessen Bedeutung sie aber herunterspielt. "Andere Frauen haben ungleich mehr bewegt als ich. Gestern im Zug sah ich eine Dokumentation über die Dichterin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou. Was für eine Poetin, was für eine starke Frau."

Der klarste Protestsong auf der neuen Platte heißt "Kong". Neneh Cherry schrieb ihn nach einem Besuch in den Flüchtlingsbaracken von Calais. "Kann sein, dass gerade alle politisch werden, aber das ist doch gut. Als Mensch, der schon ein bisschen gelebt und ein bisschen was mitgemacht hat, wollte ich die Zeitgeschichte vorsichtig in die Songs integrieren, ohne plump zu erscheinen. Ich halte es für barbarisch, den Menschen, die ihre Heimat verlassen und mit nichts außer ihrer Würde hier ankommen, auch noch zu drangsalieren. Zumal die westliche Welt verantwortlich ist für einen Großteil des Schreckens, den diese Menschen erleiden müssen."

Aktuelles Album: Neneh Cherry, "Broken Politics" (Rough Trade)

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