Neues von T.C. Boyle

13.1.2017, 14:30 Uhr
Neues von T.C. Boyle

© Foto: Bernd Telle

Auch dem neuen Opus des Großschriftstellers liegen ein reales Geschehen und — wie so oft bei ihm — eine Inselsituation zugrunde. Tatsächlich hatte man im Jahr 1991 in Arizona „Biosphere 2“ errichtet, einen 1,3 Hektar überspannenden Kuppelbau unter Glas, ein von der Außenwelt komplett abgeschlossenes eigenes Ökosystem, in das hinein sich bigbrothermäßig tatsächlich acht Probanden für zwei Jahre verstandgefährdend im Dienste der Wissenschaft einsperren ließen.

Im isolierten System

Das reale Utopie-Terrarium, das fit machen sollte für ein Leben auf dem Mars, wurde zum Ökokerker. Die es dann wieder verließen, waren andere geworden: ein Menschenversuch wie gemacht für T. C. Boyle, auf dass er sich ausmale, was in einem derart isolierten System abgeht. Die lapidare Formel heißt: „Auf begrenztem Raum ist alles möglich“.

Also ab durch die Luftschleuse, die fortan für 730 Tage um jeden Preis geschlossen werden muss. Wir ahnen nichts Gutes und erwarten volle Kanne Gruppendynamik, zumal Boyles Szenarien mit den Jahren immer düsterer geworden sind. Er wird uns nicht enttäuschen. Vom Start weg und nachdem sie die Tests und Bewerbungspräliminarien überstanden hat, ist Dawn Chapman klar, „wie naiv es gewesen war zu denken, es gebe hier keine Hackordnung“. Die Presse dröhnt von einer Bedeutung für die Menschheit, nur vergleichbar mit der Apollo-Mission zum Mond. So ist das, wenn Außen- und Innensicht differieren.

Boyles Pageturner bestimmen die Innensichten von drei alternierenden Erzählern, auf welche die verzahnten Kapitel aufgeteilt sind. Ramsey, früh verwaister Wassermanager und Kommunikationsoffizier, mag die Frauen und belagert Dawn triebgesteuert. Dawn und Linda sind beste Freundinnen. Oder richtiger: sie waren es. Die rotblonde Dawn, Umweltwissenschaftlerin, wurde nämlich aufgenommen in den inneren Kreis, der Linda verwehrt blieb. Deswegen gehört sie nur zum äußeren Beobachterpersonal, auf eine Berufung für die nächste Mission hoffend. Sie ist naiv und grundgut, will die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen, lässt sich vertrösten, trinkt ein bisschen zu viel und hadert mit ihrem Schicksal, das sie weniger ansehnlich als Dawn gestaltet hat. Die wiederum wird drin zu Ramseys Objekte der Begierde.

Drin unter den vier Frauen und vier Männern herrschen andere Gesetze. Sie sind bestimmt von einer umfassenden Ressourcenknappheit, die nur den Kakerlaken und den ihnen vergleichbaren Fernsehbeobachtern dieser Reality Show nichts auszumachen scheint. Das ist kein Freizeitpark und erst recht keine Demokratie, sondern ein wissenschaftliches Experiment, eine Arche, eine mögliche neue Welt, die zum schmutzigen Gefängnis wird mit Ziegen und Schweinen mittendrin, hoher Luftfeuchtigkeit und abwechselnden Frauen- und Männerzimmern.

Die Nahrungssituation ist durchweg prekär, die Wasserkreisläufe sind geschlossen, und bald sind destillierte Getränke und das jeweils andere Geschlecht die notwendigen Rauschmittel der ökologischen Frontsoldaten, die nicht mehr immer ihre roten Overalls tragen. Rund um die Uhr wird geschuftet und palavert.

„Nach einem Monat hätte ich für eine Pizza töten können“, fasst Dawn die Situation zusammen und verliert Fettgewebe an den falschen Stellen. Das macht Ramsey nichts aus, weswegen Linda aus ihrer Überwachungszentrale noch neidischer auf ihre mittlerweile beste Feindin blickt. Drinnen wird über alles diskutiert in endlosen Arbeitsbesprechungen, wobei nur der reden darf, der die Banane in der Hand hält, damit das alles nicht in ein Big Plapper abstürzt. Also paaren sie sich in immer neuen Konstellationen, überstehen das nachlassende öffentliche Interesse, einen Stromausfall, den Breitmilbenbefall der Kartoffeln und eine dünner werdende Luft im Dienst der Sache dieses sich in sein Gegenteil verkehrenden Gartens Eden.

Neue Herausforderung

Dann bleibt Dawns Periode aus, und eine Frau, die entschlossen und unbedingt wie alle ihren Kinderwunsch der Karriere geopfert hat, sieht sich vor neuen Herausforderungen. Das minutiös geplante Großexperiment wird nun für alle noch größer, weil an diesen Worst Case keiner gedacht hatte.

Genau darum aber geht es Boyle, denn was wäre eine Arche wert, wenn dort bei allen Pragmatismen nicht auch eine nächste Generation gezeugt würde, eine Schöpfung der Erschöpften. Hier nun schwingt sich der von Dirk van Gunsteren wieder exzellent ins Deutsche übertragene Roman auf zu einer Parabel mit biblischen Verweisen. Dawn wird zur Übermutter und Ikone schlechthin und hat schlussendlich einen Wunsch, der Linda ein weiteres Mal zur Vertrösteten machen wird. „Nachher hieß es, ich sei zu hardcore gewesen und hätte es wirklich übertrieben“, heißt Dawns Fazit. Und T. C. Boyle, der große Warner und gnadenlose Moralist, hat wieder einmal höchstens ein bisschen übertrieben.

T. C. Boyle: Die Terranauten. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag. 608 Seiten. 26 Euro.

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