Reich-Ranicki: Entronnen aus dem dunklen Tunnel

9.4.2009, 00:00 Uhr
Reich-Ranicki: Entronnen aus dem dunklen Tunnel

© WDR

«Er besteht nur aus Büchern. Er denkt in Büchern, er spricht nur von Büchern. Er lispelt leicht, was bei anderen den Nachahmungstrieb wachrief, so dass seine Sprechweise bald allgemein beliebt war. Er tauchte 1958 in der ,Gruppe 47‘ auf.« So erinnerte sich Hans Werner Richter, der Mentor der Autorenrunde «Gruppe 47« in seinem Buch «Im Etablissement der Schmetterlinge« an den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.

Büchermensch mit Koffer

Am 21. Juli 1958 steigt der aus Warschau kommende kleine Mann mit der charakteristischen Brille in Frankfurt am Main aus dem Zug. Im letzten Bild von Drohr Zahavis Film «Mein Leben« steht der Büchermensch mit Koffer, Schreibmaschine und Aktenmappe verloren auf dem Platz vor einem bundesrepublikanischen Plattenbau. Eingeblendet ist der Satz: «Vier Wochen später erschien die erste Literaturkritik unter dem Namen Marcel Reich-Ranicki.«

Der soeben Eingereiste war polnischer Staatsbürger, der sich entschlossen hatte, mit seiner Frau Teofila und Sohn Alexander im Westen Deutschlands zu leben. Der Schriftsteller Heinrich Böll bürgte für die Kosten des Aufenthaltes, andernfalls hätte Reich-Ranicki kein Ausreisevisum erhalten. Teofila und der Sohn waren zur Schwester von MRR nach London geflogen, um bei den Behörden kein Aufsehen zu erregen. Von London aus traten Frau und Kind wenig später die Reise nach Frankfurt an.

Polyglotte Umtriebe

Drohr Zahavis Filmfassung der Ranicki-Geschichte umfasst die Jahre 1928 bis 1958. Sie beginnt mit der Abberufung des damaligen polnischen Gesandten Marcel Reich-Ranicki aus London und zeigt, etwas irritierend, sein Verhör durch ein Mitglied der polnischen KP. Der Genosse Kawalerowiczl (geradezu sanftmütig von Sylvester Groth gespielt) soll die polyglotten Umtriebe des Diplomaten 1948 in England überprüfen und ihn aus der Partei ausschließen.

Ein Buch ist der Motor zum Fortgang der Handlung. Teofila, Tosia genannt, hat ihrem Mann in die Parteizentrale «Das siebte Kreuz« von Anna Seghers geschickt. Der Genosse erkundigt sich misstrauisch nach der deutschen Autorin. Reich-Ranicki klärt sogleich auf, dass es sich um eine DDR-Schriftstellerin handele und dass ihm der Roman in den dunklen Jahren des Warschauer Ghettos Trost gewesen sei. Das Interesse des Polen ist geweckt; er bittet sein Gegenüber aus der Vergangenheit, aus dem Ghetto, zu erzählen.

Verblüffende Ähnlichkeit

Der Rückblick ist in jeder Szene atmosphärisch herausragend; Matthias Schweighöfer als jugendlicher und ebenso als gesetzterer Reich-Ranicki erscheint als Idealbesetzung – auch ohne typische Sprechweise. Er sieht dem jungen MRR verblüffend ähnlich und er trifft jenen zurückhaltenden, leisen Ton, der Reich-Ranickis Autobiografie auszeichnet.

Hier will einer weder Vergeltung noch Rache. Der Autor will die Erinnerung an eine finstere Zeit wachhalten, so objektiv wie das einem Betroffenen möglich ist. Aus der Genauigkeit und der feinen Subtilität resultiert die ergreifende und zu Herzen gehende Grundmelodie des Films.

Katharina Schüttler spielt die Lebenspartnerin Teofila «Tosia« Langnas. Das Paar lernt sich im Ghetto kennen. Tosias Vater hat sich erhängt. Marcels Mutter (Maja Maranow) sieht das Elend Tosias. «Kümmere dich um das Mädchen«, sagt sie ihrem Sohn. MRR und Teofila sind inzwischen über 60 Jahre verheiratet. Auch der hochsensiblen Darstellerin der Tosia ist jene Zurückhaltung eigen, die dem Spiel Intensität verleiht.

Grandioses Ergebnis

Das Ergebnis dieser verfilmten Autobiografie nach dem Drehbuch von Michael Gutmann, mit Gero Steffen als Kameramann, ist grandios, aber der Zuschauer muss konzentriert dranbleiben. Die Rückblende verläuft nicht chronologisch. Der Film erzählt etwa so, wie eine Unterhaltung abläuft. Wenn während des Verhörs ein Stichwort fällt, das den KP-Genossen interessiert, geht es wieder zurück in die Vergangenheit. Zeittafeln erleichtern die Übersicht etwas.

Der in Berlin lebende israelische Regisseur Drohr Zahavi offenbart sein Faible für passende und gelungene Metaphern. Gleich zu Beginn, als der achtjährige Marcel von den Eltern aus Warschau zum Onkel nach Berlin «ins Land der Kultur« geschickt wird, erinnern Geräusche des ratternden Zuges an jene späteren, anderen Züge, die nach Treblinka und Auschwitz rollen werden. Als Marcel als Jude 1938 aus Deutschland ausgewiesen und nach Warschau zurückgeschickt wird, blickt er im Zug kurz von der Lektüre Balzacs auf. In diesem Augenblick tut sich ein Tunnel wie ein riesiger schwarzer Schlund auf, aus dem kein Entrinnen möglich ist.

«Glück gehabt«

«Ich habe Glück gehabt«, sagt Marcel Reich-Ranicki als Überlebender des Nazi-Terrors heute. Angesichts des Films, der das so differenziert zeigt, war MRR betroffen und erschüttert. Es gibt keinen einzigen schreienden, geifernden Nazi. Jedoch: Der differenzierte, noble Blick auf die Vergangenheit verklärt nichts! Im Gegenteil - die Erschütterung hält bei jedem Zuschauer nach dem letzten Bild noch lange an.