"Tatort" aus Berlin: Im Sumpf von Wahn und Moral

10.12.2017, 21:45 Uhr

© rbb/Gordon Muehle

U-Bahnen rattern über die Gleise. Menschen strömen in alle Himmelsrichtungen. Es ist schmutzig, laut, überfüllt. Türen auf, Leute raus, Hektik, Türen zu, weiter geht’s. In der Ecke sitzt ein obdachloser Trommler. Immer schneller, immer lauter kloppt er sich den ganzen Ballast von der Seele und haucht der Szenerie ihren wilden Puls ein. Berlin ist ein Moloch - zumindest im Untergrund. Genau dahin führt uns der "Tatort" am Sonntag.

Regisseur Florian Baxmeyer bringt in "Dein Name sei Harbinger" eine Kulisse auf den Fernsehbildschirm, die man dank des brillanten Zusammenspiels von musikalischen Elementen und dynamischen Bildern am ganzen Körper spürt. Inmitten der "abgefuckten" Anonymität an der U-Bahn-Station Alexanderplatz rackert der psychisch kranke Werner Lothar, Betreiber eines Schlüsseldienstladens, an seiner ganz besonderen Mission.

Die Kommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) kommen ihm schnell auf die Schliche: Er hat etwas mit dem Fund einer verbrannten Leiche in einem Lieferwagen zu tun. In der Vergangenheit gab es weitere Fälle mit dem gleichen Tatmuster. Ein brutaler Serienmörder? Weit mehr als das. Schauspieler Christoph Bach verkörpert eine zutiefst gespaltene Persönlichkeit - einen modernen E.T.A. Hoffmann, bei dem die Grenze zwischen Realität und Wahnvorstellung immer mehr verschwimmt. Glaubhaft pendelt Bach seine Figur zwischen Aggression und Irritation ein und verleiht Lothar gleichzeitig etwas Unschuldiges, das auch die Komissare erkennen ("Sie sind kein Mörder").

Die Ermittlungen führen Rubin und Karow aus dem U-Bahn-Tunnel heraus und hinein in die Kinderklinik Wohlleben. Minimalistisch-moderne Einrichtung, bezaubernde Sekretärin, alle lächeln freundlich. Vor allem der junge Arzt Dr. Stefan Wohlleben (Trystan Pütter), der das erste Retortenbaby zweier lesbischer Frauen ist.

Fatale Verstrickung

Zwischen den beiden Kontrasten (U-Bahn-Lothar und Schnösel-Wohlleben) spinnen die Ermittler langsam ein Netz aus Hintergründen. Kommissar Karow überschreitet dabei mehr als einmal die Sexismus-Grenze gegenüber seinen weiblichen Kolleginnen. Seine Sprache bekommt einen herrischen Rahmen, der ihn als Haudegen entlarvt, gleichzeitig aber seiner Figur Ecken und Kanten verleiht. Ein Charakter, der dem Berliner Team guttut.

Ebenso die verworrene, aber gekonnt aufgelöste Handlung. Die Suche nach dem Täter ist Nebensache. Vielmehr geht es um die Zusammenhänge: Um Manipulation und Wahn, um medizinische Phänomene und den moralischen Umgang damit. Aber ein Stück weit auch um das kaputte Berlin - die Verranztheit einer Metropole, wo ein "Spinner" mehr oder weniger nicht auffällt.

Dabei strebt Werner Lothar, alias Harbinger, nur nach einer Rettung aus seinem psychischen Dilemma. Er findet in der Beschattung seiner Opfer eine Ersatzreligion. Dem vorausgegangen ist die Manipulation eines "gesichtslosen Propheten", der ihm vorgaukelt, die Opfer zu "rehabilitieren".

Am Ende folgt ein imposanter Showdown des Bösen, um wieder das zu erlangen, wonach viele Menschen in der Enge der Großstadt streben: Freiheit und Selbstbestimmtheit. So spannend und tiefgründig war der "Tatort" schon lange nicht mehr.

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