Ukraine, das unbekannte Land

18.2.2015, 19:38 Uhr
Ukraine, das unbekannte Land

„Manchmal wird eine Nation modern. Griechen und Polen und Russen waren es eine Zeitlang. Nun sind es die Ukrainer,“ beginnt Joseph Roth seine „Nachrichten aus dem Osten“. Renommierte Blätter wie die Frankfurter Zeitung hatten den Autor, den der Roman „Radetzkymarsch“ in ganz Europa berühmt gemacht hatte, nach dem Ersten Weltkrieg in die östlichen Länder geschickt: man wollte wissen, wie sie sich „erholt“ hatten nach den Schlachten, wie der Sozialismus Fuß fassen konnte, wie es den Menschen, die soviel Leid ertragen mussten und denen eine goldene Zukunft versprochen wurde von der einzig selig machenden Partei, im Alltag ergeht.

Roths erstes Interesse galt der Ukraine, kein Wunder, wurde er doch selber in Brody nahe Lemberg geboren, das heute zu dem Land gehört, um das sich in der Historie immer gestritten wurde. Seine Einwohner: die Ukrainer, „von denen man bei uns und im übrigen Westen nicht viel mehr weiß, als dass sie irgendwo zwischen Kaukasus und Karpathen wohnen, in einem Land, das Steppen und Sümpfe hat. . .“

Provozierender Schritt

Roth geht sogar noch einen ironischen und provozierenden Schritt weiter, um zu zeigen, dass – und wieviel hätte sich bis heute daran wirklich geändert? – das Wissen über die Ukraine, dieses seltsam ferne und doch so europäisch nahe Land (man fliegt in nicht einmal zwei Stunden von München nach Lemberg) klischeebehaftet ist.

„Im übrigen sind Ukrainer eines jener Völker, von denen man nicht bestimmt sagen kann, ob sie nur Menschenfresser oder gar auch Analphabeten sind. Ihrer Abstammung nach sicher ,Russen und dergleichen‘, ihrem Glaubensbekenntnis nach urkatholische Heiden mit bartumwalltem Priestertum aus Gold, Myrrhen und Weihrauch.“ Für Roth sind das „Operettenbegriffe von Land und Volk“, doch war es seinerzeit durchaus „chic“, die Ukraine und ihre Bewohner auf die folkloristischen und etwas exotischen Besonderheiten zu reduzieren, sie als souveränes Land nicht ernst zu nehmen. Roth erteilt solchen Vor- und Aburteilen harsche Absagen und schreibt, man „sollte Volkskunst nicht entstellen, schon gar nicht die Kunst eines augenblicklich wehrlosen Volkes, dem Bolschewisten und Polen die Heimat geraubt haben.“

Die Ukraine als Spielball mächtiger Interessenvertreter aus der unmittelbaren Nachbarschaft: immer wieder in der leidvollen Geschichte wechselten die „Herren“, wurden die Grenzen neu und willkürlich gezogen, wurden Familien getrennt, umgesiedelt, mussten neuer Glaube oder neue Ideologien „gelernt“ werden, die morgen schon wieder obsolet waren und gefährlich werden konnten. Versprengt lebten Ukrainer in fremden Herrschaftsgebieten, während in ihrer eigenen Heimat ihrerseits Vertreter fremder Nationen siedelten.

Der heutige Konflikt hat seine Wurzeln hier – Roth benennt sie leidenschaftlich: „In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geographie nicht passieren dürfen, dass ein großes Volk von 30 Millionen in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe.“

Was da an Verhandlungstischen besiegelt und mit Waffengewalt wieder rückgängig gemacht wurde und wird, traf und trifft ein wehrloses Volk, das nicht mehr weiß, wo seine Heimat ist. Roth nennt es fast zärtlich liebend „unwissend, arm, zerschnitten und schön“. Ob man aus all diesen „Brocken“ den Charakter der Ukrainer bestimmen kann?

Kein anmaßendes Urteil

Roth maßt es sich nicht an, urteilt nicht, er sieht nur: „Einen ukrainischen Bauern behalte ich im Gedächtnis, der noch nie eine Eisenbahn gesehen hatte und der mir einmal sagte: ,Zu Fuß komme ich später an als Sie mit der Eisenbahn, aber ich will ja auch gar nicht dorthin, wo Sie ankommen wollen.‘ Er hatte ein winziges Gesicht aus braunem Leder. Seine Augen verbarg er, wenn er sprach, unter den Lidern, als wäre es ihm zu verschwenderisch erschienen, zu sprechen und auch noch zu schauen.“

Joseph Roth „Reisen in die Ukraine und nach Russland“, C. H. Beck Verlag, München, 136 Seiten, 14,95 Euro

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