Verwirrung eines Volkes: "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt"

21.4.2015, 07:28 Uhr
Verwirrung eines Volkes:

© Berlin Verlag

Aus heutiger Sicht unbegreiflich lange hat das deutsche Volk das NSRegime bewusst gestützt und erhalten. Doch es kam der Tag, an dem selbst die verblendetsten Anhänger das Ungeheuerliche nicht länger leugnen konnten. Der vermeintlich wundertätige Führer war tot, sein Reich lag in Trümmern. Eine Frau, die 1945 eine junge Funktionärin der Hitlerjugend war, erinnert sich: „Alles, worauf mein Leben gebaut war, und was den Inhalt meiner Jugend ausgemacht hatte, war in totaler Auflösung begriffen.” Ein damals ebenfalls noch ganz junger Mann — er erlebt das Ende als Flakhelfer — beschreibt später seine Empfindungen: „Welchen Sinn sollte es noch haben, weiterzuleben? Sollte man nicht einfach Schluss machen?”

Erweiterte Selbstmorde

Tatsächlich dokumentiert das neue Buch von Florian Huber, dass das Kriegsende von einer gewaltigen Selbstmordwelle begleitet wurde. Tausende Menschen, junge wie alte, starben von eigener Hand, ganze Familien wurden ausgelöscht, weil Väter und Mütter mit dem Mut des Wahnsinns ihre Kinder töteten, bevor sie sich selbst umbrachten. Kurz vor und kurz nach dem Einmarsch der Sowjetarmee ereigneten sich allein in Demmin, einer Kleinstadt im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, mindestens 500 Selbstmorde. Manche Historiker sprechen sogar von bis zu 2000 Fällen. Die Kindstötungen gelten in diesem Zusammenhang als „erweiterte” Selbstmorde.

Mit Unbehagen

Das Gerüst von Florian Hubers Buch bildet eine Fülle von Zeitzeugen-Berichten, welche wir Nachgeborenen nur mit ständig wachsendem Unbehagen und stellenweise mit blankem Entsetzen lesen können. Text-Auszüge aus Tagebüchern, Briefen, Berichten und Erinnerungen, straff miteinander verbunden durch eine nüchtern-knappe Erklärung des historischen Hintergrund-Geschehens, erzählen die Vorgeschichte, den Verlauf und das Ende der NS-Regierung aus der Sicht der Regierten. Auf diese Weise entsteht eine erschreckend eindrucksvolle Dokumentation der emotionalen und mentalen Verirrung eines Volkes.

„Lasst uns den Anfang bedenken, damit wir das Ende begreifen“, schrieb der deutsche Schriftsteller Ernst Wiechert im Jahr 1945. Florian Huber ist dieser Anregung gefolgt. Was zum „Dritten Reich” und zu dessen Untergang führte, beginnt in seiner Darstellung nach dem Ende des Kaiserreiches und des ersten großen Krieges. Die Bedingungen des Versailler Friedensvertrages, deren für Deutschland fatale Folgen die Bevölkerungsmehrheit vor allem den Repräsentanten der Weimarer Republik anlastete, bildeten den idealen Nährboden für nationalistisches und revanchistisches Gedankengut.

Diese an sich keineswegs neue Erkenntnis wird im Buch dokumentarisch solide untermauert. Die NS-Machtübernahme von 1933 war für nicht wenige „ganz normale” Leute offenbar eine Art „Erlösung”. Im vorpommerschen Demmin, dem oben erwähnten Schauplatz eines spektakulären Massenselbstmordes im Jahr 1945, wird Hitlers Ernennung zum Reichskanzler euphorisch gefeiert.

Unglück des Volkes

Die Stadt erlebt ihren Fackelzug, ihre Kommunistenjagd, ihre Judenverfolgung, ihre Kundgebungen und Feiern. Die von Huber zitierten Zeitzeugen bestätigen fast einmütig die Einschätzung des Theologen Karl Barth (1886–1968): „Vielleicht war dies schon bisher das Unglück des deutschen Volkes, dass es so oft allzu bereit war, sein Heil darin zu suchen, dass es sich fallen ließ. . . Man liefert sich dann aus. Man ist dann nur noch mitgerissen, hineingerissen, heruntergerissen.”

Was dann folgte, Hitlers Reich der niederen Dämonen, erleben die meisten der Dabeigewesenen als einen zwölfjährigen „emotionalen Ausnahmezustand". Die Jahre von 1933 bis 1939 „schimmern in den Erinnerungen vieler Zeitgenossen als eine Ära des Glücks“, schreibt Huber: „Die Trostlosigkeit, die die Jahre davor durchzogen hatte, wich einem erleichterten Aufatmen, das in Zuversicht und Überschwang mündete. . .

Über sechs Jahre lang schien es in Deutschland ohne Pause aufwärts zu gehen. Währenddessen eilten die Menschen von einem Feiertag zum nächsten. Endlos war die Abfolge der nationalen Feste, in denen sich die Menschen ihrer Treue versicherten.“ Ein Ereignis wie die sogenannte „Reichskristall-Nacht“ im November 1938, der Auftakt zur systematischen Juden-Verfolgung, wurde gemeinhin nur am Rande wahrgenommen und rasch wieder verdrängt.

Auch nach Beginn des Zweiten Weltkrieges können sich sogar die bescheidensten unter den deutschen „Volksgenossen“ noch mehrere Jahre lang als Sieger und wie Adolf Hitler als von der „Vorsehung“ Begünstigte fühlen. Die 21-jährige Melita Maschmann bekommt 1939 einen Posten im besetzten Polen. In ihren Erinnerungen heißt es dazu: „Unsere Existenz in dieser Zeit kam uns vor wie ein großes Abenteuer. Wir waren umso glücklicher, als wir dieses Abenteuer nicht gesucht hatten, um unsere individuelle Unternehmungslust zu befriedigen. Wir fühlten uns in einen schweren und schönen Dienst hineingerufen.”

Angst vor Vergeltungsschlägen

In einer derartigen Gefühls- und Gedankenwelt werden die düsteren Seiten des Krieges erst nach der vernichtenden Niederlage der deutschen Truppen in Stalingrad und nach dem Beginn des anglo-amerikanischen Luftkrieges gegen deutsche Städte erkennbar. Die Zeitzeugen-Berichte beherrschen bald Klagen über die eigenen Leiden und auch Angst vor den noch kommenden Vergeltungsschlägen der von der staatlichen Propaganda zu reißenden Bestien erklärten Feinde aus Ost und West.

Als viele der Befürchtungen wahr wurden, als der Krieg vielerorts wirklich in einer Orgie der Gewalt endete, gab es in Deutschland eigentlich nur noch Opfer. „Das Gefühl, zum Opfer geworden zu sein, half den Deut-schen”, schreibt Florian Huber, „es enthob sie dem Zwang, ihr eigenes Gewissen zu erforschen.” Der Autor sieht sein Buch als einen Appell an die Nachgeborenen, sich die Rolle ihrer Vorfahren beim Aufstieg und beim Untergang der NS-Herrschaft klarzumachen. Ohne die Beteiligten mit Vorwürfen zu überhäufen, aber auch ohne sie in ihrer Gesamtheit zu lediglich Verführten und letztlich Betrogenen zu erklären.

Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin Verlag, 303 Seiten mit diversen Abbildungen, 22,99 Euro.

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