Wilhelm Genazino liest aus seinem neuen Roman

30.11.2016, 11:56 Uhr
Wilhelm Genazino liest aus seinem neuen Roman

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„Endlich wusste ich, wie man alt wird“, heißt es an einer Stelle im neuen Kurzroman von Wilhelm Genazino. „Man verarbeitet eine Mitteilung, geht zum Bahnhof, steht dort herum, wundert sich und stellt fest, dass man seit drei Minuten alt geworden ist.“ Das ist der typische Genazino-Sound, sind die Gedankensprünge dieses einzigartigen Autors, sein misanthropischer Grundton. Der heute 73-Jährige hält seit Jahrzehnten und Buch um Buch an diesem Stil fest – seine Leser-Fans sind froh darüber.

Allein der Titel des neuen Buches, dessen Handlung sich wieder in Frankfurt ereignet, dort, wo der Mannheimer schon so lange lebt, ist großartig. Die Handlung ist allerdings eher ein Stillstand.

Bei diesem Schriftsteller gibt es nur Getriebene. Sie sind ganz in sich gefangen, absolut mit sich selbst beschäftigt und sozial inkompatibel. Sie haben Probleme mit der Arbeit, dem Alltag, dem anderen Geschlecht, dem Sex, dem Müll, der Luft, der Großstadt.

"Wie ein leerer alter Karton"

Es sind diese Zumutungen des Lebens, die sie von einer in die andere Neurose transportieren. Sie reagieren mit einer grundsätzlichen „Lebensaufschiebung“, mit Unverständnis, dass es anderen ganz anders damit geht, dass es Zeitgenossen gibt, die sich offenbar nicht fühlen „wie ein leerer alter Karton“, sondern sich in der Welt zurechtfinden.

Hier ist der Ich-Erzähler ein erfolgloser Schauspieler, der sich als Radiosprecher durch alltägliche Qualen plagt, gedeckt von einem Teil der „Kameradschaft der Gescheiterten“, die es auch nicht geschafft haben, irgendwo richtig anzukommen. Gelegentlich bekommt er die Möglichkeit, einen Roman als Hörbuch einzulesen, nimmt das aber nicht wahr. Auch in einem Fernsehspiel könnte er mitwirken, tut es aber nicht.

Wilhelm Genazino liest aus seinem neuen Roman

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Mit Carola, Telefonistin in einer Spedition, läuft es so lala. Beide möchten gern neben dem gewöhnlichen Wochensex mehr Nähe, mehr Aufregung, denken sogar in einem Anfall von Kühnheit an Kinder. Aber es tut sich nichts, was ein selbstbestimmtes Leben stärken könnte. Als Carola tatsächlich schwanger ist, verschweigt sie das und erleidet eine Fehlgeburt, was ihr Partner ziemlich ungerührt hinnimmt.

Genazinos Figuren existieren unverbindlich dahin im Großstadtgetümmel, sie sind „Betrachter der Bestände“. Der „Herumstreuner“ ist kein Sinnsucher, er lässt das Leben vor sich herlaufen. Seltene Freuden sind komisch, etwa als Carola ihm neue Unterhemden kauft, weil sie die alten an ihm nicht mehr ertragen kann. Da ist Glück für einen Moment.

Irgendwie bedeutsam

Was aber ist an einer solchen Slowmotion-Figur überhaupt interessant? Wilhelm Genazino hat es faustdick hinter den Ohren, er weiß als guter Beobachter genau, was viele Zeitgenossen umtreibt. Es ist das Unverbindliche, das Warten auf irgendetwas, womit die Realität gekippt werden könnte. Sein Erzähler lebt, als müsse er so leben, als sei es ihm von einer höheren Gewalt eingeschrieben. Dennoch soll sein Leben irgendwie bedeutsam sein.

Deshalb das Herumlaufen, Beobachten, Riechen, auch Ekeln. Da sieht der Erzähler, dass Einsame, Arme, Verrückte überall sind. Aber auch, dass Eichhörnchen durch Bäume hüpfen, dass der Staub der Stadt die Blaumeisen zu Graumeisen gemacht hat. Dass alles so beunruhigend ist, auch beängstigend. Dem kann man nur mit Gleichmut begegnen. In Wahrheit ist das ein Buch über das allmähliche Trauern und Sterben.

Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns. Hanser, München. 160 S., 18 Euro.

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