Zurück in die Pubertät

10.6.2015, 11:23 Uhr
Zurück in die Pubertät

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Es begann mit dem „Zimmer“, dann kamen das „Haus“ und die „Straße“, jetzt sind wir am „Ort“ – und haben uns doch nur ein paar Meter von dem Zentrum wegbewegt, in dem Andreas Maier sitzt und schreibend der Vergangenheit hinterher blickt. Sein literarisches Unternehmen ist höchst ehrgeizig: Seit fünf Jahren ist er erzählend unterwegs in seiner hessischen Heimat, in der Provinz, in die er hineingeboren wurde und die er jetzt wie auf einer Umgehungsstraße einkreist. Er tastet sich langsam aus dem sicheren Refugium des Elternhauses hinaus in die kleine Welt, die ihn erstaunt und erschreckt, herausfordert und überwältigt.

In vier Romanen hat Maier bislang von seiner Kindheit berichtet und es werden mindestens zehn Bücher werden, in denen wir dem Heranwachsenden folgen durch die Jahrzehnte seit den 70er Jahren und hinaus in die ganz normale Wirklichkeit des deutschen Alltags. Maier schreibt, wenn man so will, an einer zeitgenössischen „Suche nach der verlorenen Zeit“, an einer modernen „Éducation sentimentale“, an einer „Welt von gestern“: „Bis heute kommt es mir vor, als habe (. . .) mein Kopf begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die Geschichte meiner Welt oder der Welt schlechthin,“ heißt es einmal in „Das Haus“; und in diesem Satz liegt auch der Schlüssel für die Gültigkeit und die Faszination, die Maiers Erinnerungsprojekt ausmachen. Denn wenn wir diese Bücher lesen, begegnen wir uns auch selber, wir sehen uns größer werden neben dem Kind Andreas und wir werden Teil dieser Geschichten, durch die wir blättern wie in einem Familien-Fotoalbum.

Es ist, als kämen wir zurück in die „kaum mehr vorstellbare Einfachheit und Einheitlichkeit der damaligen Welt“ der allerersten Jahre, „um von dort aus alles weitere aufzubauen, das Haus, meine Kindheit darin, die Schulzeit, meine Familie, meine Umgebung, die anderen Menschen, auch das Draußen, den Ort um mich herum (. . .), meine ganze Herkunft und schließlich die ganze Welt bis hin zum lieben Gott.“

„Der Ort“ nun erwischt uns im heiklen Stadium der (Spät-)Pubertät, irgendwo zwischen Gummitwist und Verhütungsgummi, für das eine schon zu groß, für den anderen noch zu klein. Das verzehrende Abenteuer der Liebe, nach der wir uns plötzlich sehnen, obwohl wir sie und ihre Mechanismen nicht kapieren: „Ich nahm das erstaunt zur Kenntnis, denn es kam aus dem Nichts“, schreibt Maier über den Beginn der Gefühle, die ihn verstören und betören. Es sind Tage zwischen „Askese und Ekstase“, schmerzende Augenblicke der Selbstbespiegelung und der wunderbaren Entdeckung, auf einmal über etwas bis dahin völlig Unbekanntes verfügen zu können – über Freiheit.

Da fügt sich „eine neue Welt zusammen, die erste außerhalb der früheren, vorgegebenen Bindungen, die erste, in der wir bei allen unseren Handlungen dem neuen Phänomen gegenüberstanden, dass wir eine Wahl hatten, uns frei entscheiden konnten und in unseren Handlungen ein Bild unserer Person und dessen, wie bzw. was überhaupt die Welt für uns sein solle, entwarfen.“ Dabei ist nicht sicher, ob man dieser Verantwortung auch schon gewachsen ist. Die Experimente mit unerforschten Körpern gestalten sich dilettantisch; die Flucht vor der eigenen Persönlichkeit, die sich monströs zu behaupten beginnt, endet in Büchern, in die man sich wegträumt, die man für die wirkliche Wahrheit hält; Rückschläge werden hingenommen wie Verspätungen auf der Reise zu einem noch fremden Ich; Ordnungen zerfallen – nur der Wecker reißt einen jeden Morgen aus der selbst gezimmerten Realität.

„Der Ort“ ist einmal mehr eine (lässig staunend geschriebene) Spurensuche, eine für den Autor irgendwie längst zwanghaft gewordene Rekonstruktion jener frühen Jahre, „an die ich mich nicht erinnern kann“, wie Maier schreibt, der heute durch die Welt von damals spaziert und sich einredet, „ich liefe eigentlich durch meine früheste Seelenlandschaft.“

Andreas Maier: Der Ort. Suhrkamp Verlag, Berlin. 154 Seiten, 17,95 Euro.

Karten für die Lesung unter Telefon 09 11/ 2 34 26 58 , www.literaturhaus-nuernberg.de

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