Minus 100000 Punkte

2.11.2011, 10:00 Uhr
Minus 100000 Punkte

© De Geare

Seltsames ereignet sich, seit ich Vater geworden bin.

Gestern dachte ich ernsthaft darüber nach, eine Fernsehzeitschrift zu abonnieren, peinlicherweise den Gong, weil ich den aus der Kindheit kenne. Heute entdeckte ich in unserem Auto ein Fach, in dem vier Eurostücke herumlagen. Laut Aussage meiner Frau habe ich die Münzen gesammelt, um zum Parken und für den Einkaufswagen etwas zur Hand zu haben. Ob ich mich nicht mehr daran erinnere? Ich erinnere mich dunkel und verweigere jede Aussage. Früher lagen da die Zigaretten, uralte Tapes von den Toten Hosen und zu den besten Zeiten eine Familienpackung Kondome.

Anstatt mich zu ärgern, freue ich mich, weil ich gerade den letzten Parkplatz vor einem Einkaufscenter ergattert habe und eine der Münzen nutzen kann. Während ich Emil an den Süßigkeiten vorbeibugsiere, denke ich darüber nach, wann der schleichende Prozess des Erwachsenwerdens begonnen hat. Ich vergebe mir gestaffelte Minuspunkte in Zehnerschritten und erinnere mich zu schnell, dass ich seit der Schwangerschaft ein spezielles Brötchenmesser verwende: damit es nicht so bröselt (minus zehn). Ferner mache ich unser Bett – und das nicht nur, wenn die Schwiegereltern zu Besuch sind (minus 20). Außerdem sauge ich jeden Tag das Wohnzimmer (minus 30); damit wir uns wohlfühlen (minus 50). Pluspunkte ergattere ich, weil ich anderen Frauen noch hinterher schaue (plus 100!) und nach wie vor Fußball gucke. Okay, die Sportschau fällt flach, weil da gerade Abendbrotzeit ist, aber das Sport Studio zählt ja wohl auch, plus 10. Und: Wir wählen weder die CDU noch die FDP, was mir saubere 50 und satte 150 Pluspunkte einbringt.

Gespannt errechne ich meinen Zwischenstand an der Kasse: plus minus 0. Ein gutes Ergebnis, ich freue mich. Zwei Alltagsänderungen reißen mich in den Abgrund: keine Kinobesuche und nicht mehr Essen gehen (minus 250). Da unsere Eltern 300 und 700 Kilometer entfernt wohnen, sind wir ausgehtechnisch kastriert. Unsere Freunde wiederum haben selber Kinder im Kleinkindalter – und alleine los und die Reichweite des Babyphons testen … Nee, das wäre ein größerer Horrortrip als Saw 7 (den wir ohnehin nicht sehen wollen)! Und nein – es macht keinen Spaß, das ganze Lokal zu unterhalten, weil gerade ein Backenzahn durch will, wenn das Essen ankommt.

Die gute Nachricht: Sex haben wir noch (plus 500). Allerdings zwischen total fertig (23.30 Uhr) und scheintot (0 Uhr), was einen Abzug von 250 Punkten ausmacht. Ich verlasse das Einkaufszentrum, setzte Emil in unsere Familienkutsche mit Klimaanlage (minus 100), lege den Euro zurück ins Fach (minus 200), prüfe auf dem Heimweg, welche Tankstelle gerade günstig ist (minus 300) – und ärgere mich über den aktuellen Punktestand. Danach räume ich alle Einkäufe in die Vorratskammer (minus 400), säubere das Brotmesser (minus 500) und schäme mich, weil ich unser Bett noch nicht gemacht habe (minus 600). Dafür staubsauge ich auf der Stelle (minus 700).

Ein mir nicht weiter bekannter Autor hat die Vaterschaft als letztes Abenteuer des zivilisierten, westeuropäisch weichgespülten Mannes beschrieben. Zugegeben: Es hat etwas Archaisches, wenn man zu unmöglichen Zeiten unmögliche Dinge tut, um das Kind zum Schlafen zu bringen. Survival of the fittest hat dann eine ganz eigene Bedeutung. Doch, sorry, lieber Autor, das Gegenteil ist die Realität: Wer noch nicht weichgespült war, wird es sicherlich durch den Nachwuchs.

Es gibt nichts weniger Anarchistisches als Babys und Kleinkinder. Sie wollen nicht nur einen Rhythmus, sie brauchen ihn wie Jugendliche den Exzess. Als Eltern hat man keine andere Chance, als sich anzupassen. Inzwischen füttere ich vor dem Schlafengehen die Kaffeemaschine, um sie am nächsten Morgen, wenn das Breikochen ungeduldig kommentiert wird, sofort einzuschalten (minus 1000). Und hey, was ist das? Im Briefkasten ist – der Gong? Berit, hast du …? Minus 5000.



Eine letzte Bastion haben wir beibehalten. Wir spülen nach dem Abendessen nicht ab: plus 10000! Wir stellen die mit Resten übersäten Teller und Töpfe einfach nur in die Küche! Das gibt uns ein Gefühl von Freiheit und Revoluzzertum.

Meine Frau und ich haben gewettet, wann wir die Teller und Töpfe gleich nach dem Essen abspülen. Berit ist die rebellischere unter uns und sagt Nie. Wir haben um einen Abend im Kino gewettet, mit anschließendem Essen in einem Nobelitaliener, einem Cocktail in einem Club und langer Liebesnacht hinterher. Wer verliert, zahlt – doch muss sich erst einmal keiner Sorgen machen!

Ob wir die Wette in den nächsten zehn Jahren einlösen, ist noch nicht sicher. Denn selbstverständlich wünschen wir uns ein zweites Kind. Spätestens dann werden bestimmte Hirnareale aktiviert, die es als sehr normal empfinden, wenn wir nach dem Abendessen aufspringen, das Spülbecken mit Wasser füllen, zu Schwamm und Abtrockentüchern greifen, um die Teller und Töpfe dorthin zu stellen, wo sie hingehören: minus 100000.