50 Jahre Gefängnis - der am längsten einsitzende Häftling erzählt

19.7.2012, 12:02 Uhr
50 Jahre Gefängnis - der am längsten einsitzende Häftling erzählt

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Häftling Hans-Georg Neumann bewegt sich leise und setzt sich langsam. Er trägt Jeans und ein hellbeiges Hemd, über dem Bauch ist ein Knopf offen. Die Füße stecken in Wollsocken und Pantoffeln. Weißer, sorgfältig rasierter Vollbart, ein goldener Ohrring links, gemütliches Lachen. Im September wird er 76 und sitzt seit über 50 Jahren im Gefängnis - solange wie niemand in Deutschland.

Im Jahr 1962 hat er in einer Januarnacht in Berlin ein Liebespaar ziemlich brutal ermordet. Gefährlich sieht Neumann nicht aus. Sie aber finden ihn gefährlich. Wer sind "sie"? "Die Justiz, alle hier halt", sagt Neumann. Und das bislang letzte Gutachten über ihn vom 10. Mai diesen Jahres. Dazwischen liegen 50 erst in Berlin und dann in Bruchsal abgesessene Jahre. Ende Januar 1962, eine knappe Woche nach dem Doppelmord, wird Neumann gefasst. Das Urteil vom 3. Mai 1963 lautet: schuldig, Zuchthaus, zweimal lebenslang; er ist 25 Jahre alt.

Inzwischen ist seine Mindeststrafe seit Jahrzehnten abgelaufen; theoretisch hätte er längst entlassen werden können. "Hätte, wäre, könnte." Neumann lacht. "Bringt ja nix, alles wieder aufzurühren." Sein Berliner Dialekt klingt sehr aufgeräumt. Nein, mit der Vergangenheit möchte er sich eigentlich nicht aufhalten. Das fängt mit dem Doppelmord an, "der Tat", wie Neumann es nennt.

Viele Schüsse aus nächster Nähe

"Ich erinnere mich an nichts", beteuert er. Nicht daran, dass er das Liebespaar mit der Waffe bedrohte und in deren Wagen auf einen Waldweg Richtung Zonengrenze entführte. Nicht daran, dass er gegen einen Baum fuhr, nachdem die Frau ihm mit dem Pfennigabsatz ihres Schuhs eins überzog. Nicht daran, dass er aus nächster Nähe viele Schüsse abgab. Nicht an das viele Blut, nicht an Schreie, nicht an Stille danach. Nichts.

"Irgendwie hatte ich hinterher das Gefühl, es wäre was passiert", sagt er. Am nächsten Tag habe er sich eine Zeitung gekauft. "Ich wollte wissen, was los war." Dann wusste er es - war er geschockt? "Womöglich", antwortet Neumann. Womöglich. Neumann war schon vorher oft nachts durch die Straßen gezogen. Immer bewaffnet, immer ohne Ziel. Damit sollte es ein Ende haben, keine nächtlichen Streifzüge mehr, hatte er sich vorgenommen.

"Wenn mich nur einer angesprochen hätte", sagt er und sein Blick gleitet zur Seite. "Wenn da nur einer gewesen wäre zum Reden." Die zwei seien einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Hätte, wäre, könnte. Neumann lacht jetzt nicht. Wenn man ihn sehr drängt, erzählt er von ganz früher. Von vor dem Gefängnis. Von vor "der Tat". Von vor dem Erwachsensein.

Keine glückliche Kindheit

Zwei Monate nach seiner Geburt gab ihn die Mutter zu seiner Tante. Nach sechs Wochen dort kam er ins Waisenhaus; mit knapp zwei Jahren zu Pflegeeltern. "Klar war ich sauer, dass ich bei fremden Leuten rumgekrochen bin", sagt er. Neumann erinnert sich an keine Umarmung, kein gutes Wort, keine Ermunterung. Nicht von der Mutter, nicht von den Pflegeeltern. "Da herrschte Desinteresse. Mit Liebe war da nichts", sagt er. Zuckerwürfel hat er oft auf die Fensterbank gelegt und gehofft, ein Klapperstorch werde ihm ein Geschwisterchen bringen. "Ich war einsam."

An Mädchen hat er sich nie rangetraut. Um seine schief stehenden Zähne und die wegen einer Erkrankung übelriechende Nase hat sich niemand je gekümmert; das wurde erst im Gefängnis operiert. "Mich hat nie jemand geliebt, ich habe nie jemanden geliebt." Neumanns Wut damals muss enorm gewesen sein. "Im Knast hatte ich meine beste Zeit", findet er. "So gut hatte ich es noch nie." Neumann berlinert sehr.

Die Verbindung zu der schrecklichen Tat hat Neumann erfolgreich gekappt. Er beschäftigt sich lieber mit den kleinen Unbillen in seinem Gefängnisalltag. "Im Knast wird man überall beschissen." Er fühlt sich schikaniert, herumkommandiert, betrogen. Erst schikaniert im Gefängnis in Berlin, dann in Bruchsal, wo er seit 1991 einsitzt. Sein Radio sei ihm kaputt gemacht worden bei einer Zellendurchsuchung. Steinmetzarbeiten, die er vor Jahren anfertigte, seien ihm gestohlen worden. Immer wieder würden Habseligkeiten verschwinden.

Therapien lehnt er ab

Freigänge seien ihm willkürlich verweigert oder verkürzt worden. Momentan darf er zweimal pro Jahr nach draußen. Eine Therapie hat er abgelehnt, Gespräche auch. Auch arbeiten wollte der gelernte Feinblechner im Gefängnis nicht. Hobbies? Trost? Religion? Fehlanzeige. Manchmal meditiert er oder macht autogenes Training. Haschischrauchen hilft ihm, "von was anderem zu träumen, als von Ruinen". "Er ist verschlossen, ein Einzelgänger, ein Händler", sagt Michael Hotz, sein zuständiger Vollzugsabteilungsleiter. "Er ist schon extrem hospitalisiert", sagt sein Anwalt Oliver Brinkmann.

Neumann tauscht Schokolade, Zigaretten, Kekse, handelt mit allem, was im Gefängnis so geht. Ein wenig Geld hat er auf die Seite gelegt. "Hab' ein Konto in Dänemark", sagt er. Zwei Jahre könnte er schon durchkommen. "Bin eher ein materialistischer Kerl." Lacht verlegen, seine Hände liegen ruhig vor ihm auf dem Tisch. "Geld ist mein Familienersatz." Ein neuer Antrag auf Entlassung läuft gerade. Wenn er noch mal rauskäme, hätte er gerne ein kleines Häuschen, wäre gerne noch mal auf Reisen, könnte sich das Leben mit einer Frau vorstellen. Hätte, wäre, könnte. Sterben wird er vermutlich im Gefängnis.

 

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