94-Jähriger vor Gericht: KZ-Wachmann muss sich verantworten

6.11.2018, 17:29 Uhr
94-Jähriger vor Gericht: KZ-Wachmann muss sich verantworten

© Guido Kirchner/dpa

Mord und Mordbeihilfe verjähren nicht. Und so gibt es auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende noch Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Einige wegweisende Gerichtsurteile haben der Strafverfolgung mutmaßlicher Nazi-Schergen in den letzten Jahren sogar einen Schub versetzt – die Zeit drängt.

Nach aufsehenerregenden Prozessen gegen Wachpersonal von Auschwitz und Sobibor in den vergangenen Jahren sind die Ermittler nun vorgedrungen zu den weniger bekannten Kapiteln der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie: Am Dienstag begann vor dem Landgericht Münster ein Prozess gegen einen 94 Jahre alten SS- Wachmann des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig – und damit ein weiteres Stück späte juristische Aufarbeitung. "Stellen Sie sich eine Tötungsart vor, potenzieren Sie diese und Sie bekommen eine Vorstellung davon, wie die Nazis in den Konzentrationslagern getötet haben", sagt der Dortmunder Oberstaatsanwalt Andreas Brendel vor Prozessauftakt.

"Und Stutthof ist da keine Ausnahme." Brendel ist gemeinsam mit einem Team beim Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen zuständig für die Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechen. Er führt die Anklage gegen den hochbetagten Angeklagten aus dem Kreis Borken, der von Juni 1942 bis September 1944 in Stutthof als Wachmann tätig war. Brendel wirft ihm hundertfache Mordbeihilfe vor. Nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralen Stelle in Ludwigsburg starben bis Kriegsende 65.000 Menschen in Stutthof und seinen Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen.

Sie wurden in einer Gaskammer ermordet, mit Genickschüssen getötet oder vergiftet. Sie erfroren oder starben durch Mangelernährung, erschöpft durch die Zwangsarbeit oder miserable medizinische Versorgung. "Es gab in Stutthof Fleckfieberepidemien, da hat man die kranken Häftlinge in Baracken gesperrt und verrecken lassen", schildert Brendel.

Dienst als 18-Jähriger

Der Angeklagte soll als 18-Jähriger seinen Dienst als SS- Wachmann in dem KZ angetreten haben. Dass in Stutthof Häftlinge brutal ums Leben kamen, sei ihm nicht entgangen. Als Wachmann soll er vielmehr das grausame Morden mit ermöglicht haben. Dass ein Einzelner allein durch Mitarbeit in einem Vernichtungslager auch strafrechtliche Verantwortung für das Morden trägt, ist erst in jüngerer Vergangenheit in mehreren Gerichtsprozessen festgestellt worden: 2011 war Sobibor- Wachmann John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Juden zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden.

Es folgten die Verurteilungen von Oskar Gröning, dem sogenannten "Buchhalter von Auschwitz", und Reinhold Hanning, SS- Wachmann in Auschwitz. Alle drei sind inzwischen verstorben. Es sind Meilensteine in der Rechtsgeschichte: Nicht mehr die konkrete Beteiligung an einzelnen Morden muss nachgewiesen werden, wie dies zuvor gängige Praxis war. "Die Gerichte erkannten es als ausreichend für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord an, wenn man durch seinen allgemeinen Dienst in dem Lager die Mordmaschinerie am Laufen gehalten hat", sagt Jens Rommel, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von Nazi-Verbrechen in Ludwigsburg.

Im Fall Hanning sahen die Richter es zudem als erwiesen an, dass auch die verheerenden Lebensumstände bei Zwang zur Schwerstarbeit systematischen Mord bedeutet haben. "Daher kommen heute wieder mehr Beschuldigte in Betracht", sagt Rommel. Rund 30 Verfahren gibt die Zentrale Stelle pro Jahr an die Staatsanwaltschaften weiter. Zuletzt waren das Verfahren gegen weitere Auschwitz-Mitarbeiter sowie gegen Beschuldigte, die ihren Dienst in den Lagern Stutthof, Buchenwald, Ravensbrück und Mauthausen verrichtet haben sollen.

Zur Zeit untersuchen die Staatsanwälte außerdem die Verbrechen in den Konzentrationslagern Mittelbau, Flossenbürg und Groß-Rosen bei Breslau. Es ist auch eine Arbeit gegen die Zeit: "Keiner unserer Beschuldigten ist jünger als 91 Jahre", sagt Rommel. Die Chance, auf Lebende und Verhandlungsfähige zu stoßen, werde immer geringer. Immer wieder müssen die Staatsanwälte daher Verfahren einstellen, ohne dass es zum Prozess kommt. Ursprünglich sollte auch in Münster ein zweiter Mann auf der Anklagebank sitzen: Doch weil die Verhandlungsfähigkeit des Mannes aus Wuppertal weiter strittig ist, wurden die Verfahren nun doch voneinander getrennt. Auch der Gebrechlichkeit des Borkener Angeklagten wird das Gericht Rechnung tragen: Verhandelt wird pro Prozesstag nur zwei Stunden. 

7 Kommentare