Nach Erdbeben: Neunjährige Giulia rührt Italien zu Tränen

28.8.2016, 19:13 Uhr
Sie warf sich schützend vor ihre Schwester, die überlebte: Der Fall der neunjährigen Giulia berührt Italien ganz besonders.

© dpa Sie warf sich schützend vor ihre Schwester, die überlebte: Der Fall der neunjährigen Giulia berührt Italien ganz besonders.

Hier ein vergilbtes Foto, dort ein Plüschtier, etwas weiter Spielzeug und ein Rosenkranz – die Menschen haben mitgebracht, was sie aus den Resten ihrer zerstörten Häuser noch retten konnten. Kleine Erinnerungen an jene, die noch vor wenigen Tagen lebten, Spuren von brutal aus dem Leben gerissenen Menschen. Für manche hatte es noch nicht einmal richtig begonnen, das Leben.

Die Mitbringsel liegen am Samstag auf den 35 Särgen in der Sporthalle in Ascoli Piceno in den mittelitalienischen Marken. Sie lassen erahnen, welch erschütterndes Ausmaß die Erdbebenkatastrophe für die Hinterbliebenen der mindestens 290 Toten hat. Vor allem in den Bergdörfern Amatrice und Accumoli in Latium und in Pescara del Tronto in den Marken wurden die Menschen unter Trümmerbergen begraben.

Renzi, Matarella, Geistliche - alle sind dabei

Bei brütender Hitze haben sie sich versammelt – Staatspräsident Sergio Mattarella, Regierungschef Matteo Renzi, Abgeordnete und Honoratioren, Geistliche und Generäle. Das Staatsfernsehen RAI überträgt live, ganz Italien verneigt sich vor den Toten in den Bergdörfern des Apennin.

Vor dem improvisierten Altar mit dem noch schnell an der Wand befestigtem Kruzifix, das aus einer der zerstörten Kirchen gerettet wurde, stehen ihre Särge. In vier Reihen, dazwischen sitzen oder stehen Verwandte und Freunde, reichen sich die Hände, umarmen sich. Die Überlebenden des Erdbebens trauern gemeinsam.

"Entschuldige Giulia, dass wir zu spät gekommen sind"

"Solche Katastrophen können den Menschen alles nehmen, außer den Mut des Glaubens", sagt fast trotzig Bischof Giovanni D’Ercole aus Ascoli Piceno. Ob er die Gemeinde damit erreicht, etwa die Hinterbliebenen der kleinen Marisol, die mit 20 Monaten unter dem Dach ihres eingestürzten Hauses starb? "Sie ist jetzt bei den Engeln", hat jemand auf einen Zettel auf ihrem kleinen weißen Sarg geschrieben.

Oder die Mutter der achtjährigen Giulia. "Ciao, Mama wird Dich immer lieben", sagt die Frau, die selbst schwer verletzt wurde und am Freitagabend auf einer Krankenliege in den "Palazzetto dello Sport" gebracht wurde. Dann drückt sie ein Foto ihrer Tochter auf ihr Gesicht. Ein Retter hat einen Brief hinterlassen: "Entschuldige Giulia, dass wir zu spät gekommen sind."

Giulia hatte während des Erdbebens ihre kleine Schwester Giorgia schützend umarmt. Die Vierjährige war nach 16 Stunden lebend aus den Trümmern ihres Kinderzimmers in Pescara del Tronto geborgen worden.

"Wiederaufbau ist ein Leckerbissen für Kriminelle"

Nach der Feier begibt sich Präsident Mattarella unter die Trauernden, spricht ihnen Mut zu, versucht zu trösten. Premier Renzi steht abwartend an der Seite. Er ahnt, dass die Überlebenden jetzt Antworten von ihm erwarten, die Italien längst haben müsste.

Wie kann es sein, dass der Erdbebenschutz in den Gebäuden zwar gesetzlich gefordert, von den Behörden aber nicht durchgesetzt wird? Warum stürzte in Amatrice eine Schule ein, die gerade erst gebaut wurde? Staatsanwaltschaften ermitteln. Auch die oberste Anti-Mafia-Behörde des Landes ist eingeschaltet. Deren Top-Staatsanwalt Franco Roberti sagt: "Der Wiederaufbau nach einem Erdbeben ist traditionell ein Leckerbissen für Kriminelle und ihre verbündeten Geschäftspartner."

Ein Skandal wie nach dem Erdbeben im süditalienischen Idriana im Jahr 1980, bei dem etwa 3000 Menschen starben und Hilfsgelder im großen Stil von Politikern veruntreut oder in die Hände der Mafia gewirtschaftet wurden, darf und werde sich nicht wiederholen, erklärt er.

Doch wo sollen die Menschen, die ihre Bleibe und ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, nun unterkommen? Müssen sie noch im Herbst die bitterkalten Nächte in den Zeltlagern in den Bergen verbringen?

"Können nicht alles aus Rom entscheiden"

Renzi schreitet zu den Hinterbliebenen und nimmt sich Zeit für Gespräche. Noch am Donnerstag hatte er seine Landsleute aufgerufen, sich um den Schutz des "Hauses Italien" zu kümmern und endlich mit der Sicherung ihrer Wohnungen ernst zu machen. "Ihr müsst sagen, was für Euch besser ist", bittet Renzi dann eine Gruppe von Hinterbliebenen. "Wir können nicht alles aus Rom entscheiden." Auch er wirkt hilflos angesichts dieser Tragödie.

Für Renzi steht viel auf dem Spiel, das weiß er. Er hat für den Herbst ein wichtiges Referendum über eine Verfassungsreform angekündigt und damit sein persönliches Schicksal als Regierungschef verknüpft - wenn er die Volksabstimmung verliert, dann kann er sich seines Postens nicht mehr sicher sein.

Zeigt er sich als guter Krisenmanager nach dem Erdbeben, dann hat er die Zustimmung seiner Landsleute wohl sicher. Am kommenden Dienstag kann er auf einer weiteren Trauerfeier in Amatrice den Menschen wieder seine Unterstützung zeigen. Dann müssen Taten folgen.

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