Afghanistan-Experte: Rückkehrer stehen vor dem Nichts

16.7.2018, 10:36 Uhr
"Afghanistan ist kein sicheres Land. Es ist ein Land im Krieg, die Wirtschaft liegt am Boden", sagt Mirco Günther über jenen Staat, in den Asylbewerber immer wieder zurückgeschickt werden.

© Daniel Maurer/Archiv (dpa) "Afghanistan ist kein sicheres Land. Es ist ein Land im Krieg, die Wirtschaft liegt am Boden", sagt Mirco Günther über jenen Staat, in den Asylbewerber immer wieder zurückgeschickt werden.

Herr Günther, Bundesinnenminister Horst Seehofer hat sich zuletzt erfreut gezeigt darüber, dass zu seinem 69. Geburtstag 69 Flüchtlinge abgeschoben worden seien. Wie kommt das bei Ihnen an?

Mirco Günther: Wir sehen als Friedrich-Ebert-Stiftung genau diejenigen, die dann in Kabul ankommen. Das ist auch unsere Aufgabe, zu schildern, wie wir die Lage vor Ort wahrnehmen. Und da ist festzuhalten, dass die Sicherheitslage denkbar schlecht ist. Die Zahl der getöteten Zivilisten hat im ersten Halbjahr 2018 mit mindestens 1692 den höchsten Stand seit 2009 erreicht.

Die UN sprechen davon, dass Afghanistan ein Land im Krieg ist, kein Post-Konflikt-Land. Die Konzentration von Anschlägen gerade in Kabul ist besorgniserregend. Fast scheint es, als würden sich Taliban und der sogenannte Islamische Staat quasi ein Wettrennen liefern, auch aufgrund des hohen Symbolcharakters von Anschlägen in der Hauptstadt. Die Botschaft ist: "Niemand ist sicher. Jeden kann es treffen."

Was machen Rückkehrer, die in Kabul ankommen?

Günther: Das ist sehr unterschiedlich. Für abgeschobene Personen gibt es eigentlich nur das Angebot, in Kabul bis zu 14 Tage in einem Gästehaus unterzukommen. Dort ereignete sich auch der traurige Fall, der jetzt bekanntwurde: der Selbstmord eines 23-jährigen Flüchtlings. Darüber hinaus sind die Unterstützungsleistungen gering. Sogenannten freiwilligen Rückkehrern wird gegebenenfalls eine finanzielle Starthilfe angeboten. Letztlich ist auch sie ein Tropfen auf den heißen Stein. Ohnehin heißt "freiwillig" auch oft einfach: Mangel an Alternativen und einer Abschiebung zuvorkommen. Rückkehrer aus der EU sind zudem oft besonders stigmatisiert. Wenn man da keine sozialen Netze hat, steht man praktisch vor dem Nichts.

Mirco Günther (33) ist seit Anfang 2017 Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan. Zuvor war er für die OSZE in leitender Funktion in der Ostukraine, Kasachstan und Tadschikistan tätig.

Mirco Günther (33) ist seit Anfang 2017 Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan. Zuvor war er für die OSZE in leitender Funktion in der Ostukraine, Kasachstan und Tadschikistan tätig. © Foto: Stefan Hippel

Wer zurückkommt, hat versagt

Warum ist die Rückkehr gerade aus Europa ein besonderes Stigma?

Günther: In vielen Fällen entscheidet die ganze Familie, wer die Flucht auf sich nimmt. Dann ist es ein Versagen, wenn man zurückkommt und sagen muss: "Ich habe es nicht geschafft." Viele Familien haben sich für die Flucht hoch verschuldet, haben ihre Grundstücke und Häuser verkauft. Zudem hat sich in vielen Köpfen das falsche Bild festgesetzt, wonach etwa nur Straftäter abgeschoben würden. Das ist nach der Rückkehr aus Europa ein Problem, ebenso wie die unterstellte Verwestlichung oder unzutreffende Annahmen über die wirtschaftlichen Mittel der Rückkehrer. Die Gefahr von Erpressungen und Entführungen steigt so.

Wie verfolgen Sie solche Fälle von Rückkehrern?

Günther: Wir treffen viele dieser Personen in Kabul. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat dazu gerade einen Dokumentarfilm herausgebracht: "Rückkehr nach Afghanistan". Darin porträtieren wir sieben Flüchtlinge, die zurückkehren müssen oder wollen. Sie kommen nicht nur aus Deutschland, sondern auch Pakistan und Iran.

Nun schickt nicht nur Deutschland afghanische Flüchtlinge zurück. Viel massiver ist die forcierte Rückkehr aus Pakistan. Was macht das mit einem Land wie Afghanistan?

Günther: Es schieben auch andere EU-Länder ab, wie etwa die Skandinavier, ebenso die Türkei. Die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland liegt aktuell bei 303, die Zahl der sogenannten freiwilligen Rückkehrer bei rund 1100 letztes Jahr. Gleichzeitig sind aus Pakistan und Iran in den vergangenen zweieinhalb Jahren über eine Million afghanische Flüchtlinge zwangsweise zurückgekehrt. Gerade sie sind oft ein Spielball der regionalen Machtpolitik. Dazu gibt es 1,8 Millionen Binnenvertriebene. Für ein Land wie Afghanistan, das im Krieg ist, wo große Not herrscht und es keine Perspektiven gibt, ist das eine riesige Last. Diese Masse an Schicksalen kann die afghanische Gesellschaft, die Politik und Wirtschaft überhaupt nicht integrieren.

... und in diese Situation hinein schiebt Deutschland ab.

Günther: Wir haben bei uns oft die Debatte, ob Afghanistan ein sicheres Herkunftsland ist oder nicht. Das ist insofern jedenfalls juristisch nicht ganz korrekt, als dass auch die deutschen Behörden und Politik Afghanistan nicht als "sicheres Herkunftsland" nach Paragraf 29a Asylgesetz einstufen. Die Argumentation ist vielmehr, dass man in begründeten Einzelfällen angeblich abschieben könne.

Wenn wir diese Leute dann aber in Kabul treffen, kommen einem schon Zweifel an der Gründlichkeit dieser Einzelfallprüfungen. Viele von ihnen waren sehr gut integriert, sprechen Deutsch, hatten einen Job oder Ausbildung. Das trifft auch auf den Flug letzte Woche mit 69 Abgeschobenen zu, darunter 51 aus Bayern.

"Afghanistan ist kein sicheres Land"

Aus Deutschland wurden auch viele Hasara abgeschoben, die in Afghanistan massive Probleme haben.

Günther: Die Hasara sind eine Minderheit in Afghanistan, die besonderen Gefahren ausgesetzt sind. Sie sind Schiiten in einem mehrheitlich sunnitischen Land. Ein größerer Teil der Anschläge in Kabul sind oft im Westen der Stadt, wo die meisten der Hasara leben. Deswegen sind auch viele Hasara in den Iran geflohen. Dort werden sie immer wieder ausgenutzt und für den Krieg in Syrien rekrutiert, wo sie dann auf der Seite von Präsident Assad kämpfen.

Genau um dem zu entgehen, sind viele in den Westen geflohen.

Günther: Viele von denen, die heute noch nach Europa wollen, kommen gar nicht mehr durch. Sie kommen vielleicht bis zur iranisch-türkischen Grenze. Dann telefonieren sie mit ihren Bekannten in Europa, und die sagen ihnen: "Geh nicht in die Türkei, da kommst du nicht mehr weiter. Das ist aussichtslos." Die Türkei schiebt auch in hohen Zahlen ab. Viele solcher Schicksale kennen wir.

Wie sollte Deutschland mit afghanischen Flüchtlingen umgehen?

Günther: Wir sollten uns vor allem ehrlich machen. Afghanistan ist kein sicheres Land. Es ist ein Land im Krieg, die Wirtschaft liegt am Boden. Die Armutsquote ist wieder auf dem Niveau der frühen 2000er Jahre, kurz nach dem Sturz der Taliban. Es gibt für die vielen Rückkehrer, die wir derzeit sehen, keine wirtschaftliche und soziale Perspektive. Ob man nach Afghanistan abschiebt, ist eine politische Entscheidung. Aber wir sollten nicht mehr sagen: "Man kann nach Afghanistan abschieben, weil es sicher ist." So ehrlich muss man sein.

Viele deutsche Firmen, die Flüchtlingen ein Praktikum oder eine Ausbildung ermöglicht haben, sind gerade mit den Afghanen sehr zufrieden. Trotzdem werden viele abgeschoben.

Günther: Ich kann es auch nicht nachvollziehen. Auch wenn man akzeptieren würde, dass Straftäter, Gefährder und Identitätsverweigerer abgeschoben werden, ist erstaunlich, wie viele sehr gut integrierte junge Menschen zurückgeschickt werden, die in keine dieser Kategorien fallen.

Offenkundig soll der Spurwechsel vom Flüchtlingsstatus auf den Arbeitsmarkt abgeblockt werden.

Günther: Es ist in unserem eigenen Interesse, wenn dieser möglich wäre. Wir tun uns und den afghanischen Geflüchteten keinen Gefallen, wenn wir ihnen keinen Zugang zu Sprachkursen oder anderen Integrationsangeboten geben, nur weil ihre Anerkennungsquote momentan unter 50 Prozent liegt. Ganz viele sind für Wochen und Monate dazu verdammt, erst mal nichts zu tun.

Ohnehin ist die Realität in Afghanistan komplexer. Für uns in Deutschland mag die deutsche Unterscheidung in politisch Verfolgte, Kriegsflüchtlinge und sogenannte Wirtschaftsmigranten naheliegend erscheinen. Wenn Sie aber Afghanen fragen, ob sie fliehen, weil sie bedroht sind, Krieg herrscht oder es keine Arbeitsperspektiven gibt, dann werden die meisten sagen: alles drei.

Nur jeder Siebte kommt in den Westen

Flucht aus Afghanistan hat es ohnehin längst vor unserer Flüchtlingskrise von 2015/16 gegeben.

Günther: Das ist in Afghanistan eine Frage von Generationen. Kriegerische Auseinandersetzungen gibt es spätestens seit der sowjetischen Invasion von 1979. Viele Familien sind wiederholt geflohen und zurückgekommen. Die afghanische Diaspora ist mit 6,5 Millionen eine der größten der Welt. Die Annahme im deutschen Diskurs, dass sie alle nach Europa kommen wollen und dass das 2015 begonnen hat, ist faktisch falsch. Nur jeder siebte Flüchtling kommt in den Westen. Die Hauptlast tragen die Nachbarländer und die Konfliktländer selbst.

Nach der Vertreibung der Taliban 2001 ist Aufbauhilfe geleistet worden. Statt die Landwirtschaft zu fördern, gab es aber Getreideimporte vor allem aus den USA, die keine Arbeitsplätze geschaffen haben. Auch der Bildungssektor ist trotz der vielen Schulbauten eher stiefmütterlich behandelt worden. Das waren doch zwei entscheidende Fehler.

Günther: Es ist jedenfalls nicht gelungen, die Eigenkräfte der afghanischen Wirtschaft zu stärken. Mit dem Abzug der meisten Soldaten 2014 ist die Wirtschaft eingebrochen. Das zuvor gesehene Wachstum war eine größtenteils von außen erzeugte Blase. Hotels in Kabul schließen, Hochzeitshallen schreiben rote Zahlen.

Die Deutschen haben sich immer zugutegehalten, sie hätten da tolle Arbeit geleistet.

Günther: Deutschland hat sicher zu Fortschritten beigetragen, auch in der Bildung. Laut einem neuen UN-Bericht geht die Hälfte der Kinder aber nicht in eine Schule. Das ist ein relativ dramatischer Befund nach so vielen Jahren. Viele unserer Annahmen müssen auch hinterfragt werden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sowohl Kabul als auch Provinzen, Städte und Regionen, die wir vor allem im Norden zumindest bis 2014 für wesentlich sicherer hielten als andere Landesteile, das heute nicht mehr sind.

Kampf um Rohstoffe

Die Deutschen genießen in Afghanistan hohes Ansehen. Jetzt, da der Westen sich zurückgezogen hat, treiben wir die Afghanen dann nicht in die Arme der Chinesen? Es geht da auch um riesige Rohstoffvorkommen.

Günther: Viele westliche Länder sind weiter sehr engagiert in Afghanistan, darunter auch Deutschland. Aber es stimmt, dass gerade die gigantische neue Seidenstraßen-Initiative Chinas enorme Auswirkungen für die Region hat. An den Rohstoffen sind viele interessiert. Afghanistan ist ein sehr reiches Land zum Beispiel mit Blick auf Gold, Kupfer oder Schmucksteine. Nicht nur die Chinesen, auch die Inder etwa oder die Amerikaner verfolgen da Projekte. Das Dilemma aber ist die schlechte Sicherheitslage.

Glauben Sie, dass Sie, solange Sie noch in Afghanistan sein werden, eine Besserung erleben?

Günther: Ich werde noch bis Ende 2018 in Afghanistan sein. Dann sind es insgesamt zwei Jahre. Ich glaube nicht, dass wir bis dahin einen Durchbruch erleben. Was aber ein bisschen Mut macht, ist der dreitägige Waffenstillstand von Mitte Juni zum Ende des Ramadan. Das ist präzedenzlos, weil es in den letzten 17 Jahren nie einen Waffenstillstand gab, an den sich Regierung und Taliban gehalten hätten.

Diesmal gab es Bilder, wo Taliban mit Zivilisten und Soldaten gemeinsam gebetet, Tee getrunken und Selfies gemacht haben. Das war etwas surreal und auch nicht jeder teilte den Enthusiasmus. Inzwischen wird wieder stark gekämpft. Aber diese Waffenruhe war ein starkes Symbol, auch emotional. Sie hat gezeigt, was möglich sein kann. Und wer weiß, vielleicht gibt es beim Opferfest im August, dem höchsten islamischen Feiertag, wieder einen Waffenstillstand.

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