Amerikaner sehen in Luther vor allem den Helden

15.1.2017, 18:54 Uhr
Amerikaner sehen in Luther vor allem den Helden

 

NZ: Wie wird Martin Luther in der amerikanischen Gesellschaft wahrgenommen?

Philip Jenkins: Martin Luther ist eher eine Symbolfigur und wird weniger als eine historische Person wahrgenommen. Sofern Amerikaner überhaupt etwas über sein Tun wissen oder ihn auch nur kennen, denken sie an ihn als jemanden, der für religiöse Freiheit steht und der gegen repressive Institutionen gekämpft hat, wobei sie keine wirkliche Vorstellung davon haben, was Luther geglaubt oder gesagt hat. Sie sehen in ihm jemanden, der sich gegen Hierarchien aufgelehnt hat, aber auch gegen den Klerus und gegen eine institutionalisierte Religion. Nur Fachleute unter den Historikern und Theologen haben einen Sinn für Inhalt und Bedeutung der Reformation.

NZ: Nehmen die Amerikaner am Lutherjahr dann überhaupt Anteil oder nur die lutherischen Christen?

Jenkins: Die meisten Protestanten nehmen es durchaus wahr, und es wird viele, viele Konferenzen und Seminare an christlichen Hochschulen zu dem Thema geben. Diese Colleges sind übrigens sehr groß und wichtig in den USA.

 

NZ: Wie hat Luther Amerika geprägt?

Jenkins: Nicht so sehr Luther, sondern der Protestantismus an sich hat Amerika seit seiner frühesten Kolonialzeit geformt. Wobei Calvin mindestens genauso wichtig ist wie Luther, aber Luther öffnete natürlich die Tür für Calvin. Abgesehen von Luther als der zentralen Figur der Reformationszeit können die meisten nicht-akademischen und nicht religiös geprägten Amerikaner aber keine Figur aus dieser Bewegung nennen.

 

NZ: Welche Verbindung besteht zwischen Luther und Martin Luther King?

Jenkins: Wirklich keine außer dem Namen. Im amerikanischen Kollektivgedächtnis werden Luther und King als ähnliche Kämpfer gegen Unterdrückung angesehen. Gibt man in der Suchleiste von Google Martin Luther ein, erscheint normalerweise als Antwortmöglichkeit direkt auch Martin Luther King. Das sagt schon alles. Und vergessen Sie nicht unseren anderen großen amerikanischen Luther, den jeder hier kennt – Supermans großen Feind Lex Luthor!

 

NZ: Welche Art von Kritik wird in den USA an Luther geübt?

Jenkins: Manche Leute werfen die Frage nach Luthers anti-jüdischen Kommentaren auf, aber diskutiert wird das vor allem in der Fachwelt. 1983 brachte die US-Post eine 20-
Cent-Briefmarke zum 500. Geburtstag Luthers heraus und meines Wissens gab es keine großen Proteste oder Bemerkungen dazu. Katholiken haben seit jeher Schwierigkeiten, enge Verbindungen zu Protestanten aufzubauen und sehen in Luther den Urheber jedweder Feindschaft oder Rivalität. Katholiken versuchen heutzutage aber, diese Spannungen, die lange existiert haben, abzubauen. Gemeinsam mit den Protestanten arbeitet man daran, die Reformation in einem positiveren Licht zu sehen.

 

NZ: Was schätzt man an Luther in den USA am meisten?

Jenkins: Sein Image als heldenhafter Einzelkämpfer. Der Mythos oder die Legende eines tapferen, allein handelnden Individuums, das für Gewissensfreiheit steht und für ein Aufbegehren gegen eine unterdrückerische religiöse Hierarchie. Interessanterweise fällt der Name Luther heutzutage erstaunlich oft im Kontext mit dem Islam.

 

NZ: Inwiefern mit dem Islam?

Jenkins: Viele Menschen in den USA verstehen das Wesen der Reformation nicht. Sie erachten das Ergebnis als eine individualistische, freiheitliche, demokratische und sogar nicht-organisierte Religion. Deshalb hoffen sie, dass der Islam seine eigene Reformation oder seinen eigenen Martin Luther haben wird, quasi als Mittel, um Gewalt und Fanatismus hinter sich zu lassen. Ich bin allerdings der Meinung, dass der Islam gerade seine eigene Reformation erlebt, die aber Salafismus sowie Fundamentalismus hervorgebracht hat. Aber das will man in der westlichen Welt so nicht sehen.

 

NZ: Eine Reformation des Islam?

Jenkins: Ja, Salafisten repräsentieren eine Art Reformation, indem sie das Hauptaugenmerk allein auf die Schriften legen. Auch versuchen sie all das zu entfernen, was sie als später hinzugefügt betrachten oder was zum puren Glauben hinzugekommen ist. Sie versuchen zu einer imaginären primitiven Welt zurückzukehren. Das ist so ähnlich wie in Luthers Welt.

 

NZ: Bringt das Luther-Jahr mehr Menschen in die amerikanischen Kirchen?

Jenkins: Ich bin sicher, das wird nicht der Fall sein, denn die Kirchen, die Luthers gedenken, sind diejenigen, die sich hierzulande eher auf dem absteigenden Ast befinden. Die schnell wachsenden Kirchen in Amerika sind tendenziell die Pfingstgemeinden. Und die haben wenig mit dieser Historie zu tun.

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