Bloßes Wegsperren reicht nicht

5.5.2011, 00:00 Uhr
Bloßes Wegsperren reicht nicht

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Wie lange kann ein erster Satz eigentlich dauern? So ein erster Satz eines mit Hochspannung erwarteten Grundsatzurteils. Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, liest und liest und liest. Und kommt doch nicht zum Punkt, zu den entscheidenden Worten. 78 Zeilen ist der erste Satz lang, lässt sich später im schriftlichen Urteil nachzählen.

Als er sich dann dem Ende neigt, wirken die Zuhörer fast erschrocken. Ob der Tatsache, dass auch dieser Satz wirklich endet. Aber auch ob der Tatsache, wie er endet: nämlich „...sind mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.“ Wie bitte: Unvereinbar? Die Sicherungsverwahrung ist also verfassungswidrig? Gefährliche Straftäter dürfen nicht mehr vorbeugend weggesperrt werden?

Irritierte Beobachter

Gerade die Verfassungsgerichts-Erfahrenen unter den Beobachtern wirken irritiert. Hatten die meisten doch aus der mündlichen Verhandlung Anfang Februar herausgehört, das Verfassungsgericht werde die bisherige Praxis stützen. Werde sich damit gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellen, der Deutschland mehrmals wegen Verstoßes gegen die Menschenrechte verurteilt hat.

Bloßes Wegsperren reicht nicht

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Doch sie lagen falsch: Die Verfassungshüter schlossen sich dem EGMR an. Sie bewerteten sein Urteil zwar nicht als bindend, aber als wichtige „Auslegungshilfe“. Und sie gingen außergewöhnlich hart mit der bisherigen Gesetzgebung ins Gericht. Außerdem mit der Praxis nicht nur des Vollzugs der Sicherungsverwahrung, sondern auch des Vollzugs der vorausgehenden Strafhaft.

Es werde bereits dort nicht genug mit den Gefangenen unternommen, so erklärt Voßkuhle, um die Sicherungsverwahrung zu vermeiden. Später dann, wenn der Betroffene in der Verwahrung gelandet ist, werde zu wenig Wert auf den Unterschied zwischen den Arten des Wegsperrens gemacht. „Sämtliche Vorschriften über die Dauer und die Anordnung der Sicherungsverwahrung sind mit den Freiheitsrechten der Untergebrachten unvereinbar, weil sie den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Abstandsgebots nicht genügen“, sagt Voßkuhle. In einem Teilbereich der bisherigen Sicherungsverwahrung wird nach Ansicht der Karlsruher Richter außerdem das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot verletzt. Denn hier hat der Staat die Sanktion im Nachhinein verschärft oder gar erst im Nachhinein ausgesprochen — ohne Vorwarnung für die Betroffenen.

Das Verfassungsgericht verlangt nun vom Gesetzgeber zwar nicht die Abschaffung der Sicherungsverwahrung. Aber einen Neuanfang mit einem Konzept, das auf Therapie ausgerichtet ist und Perspektiven für eine Entlassung eröffnet. Für dessen Erstellung er zwei Jahre Zeit hat. Eckpunkte für dieses Gesamtkonzept liefern die Richter in ihrer Urteilsverkündung gleich mit. Das erfahren die Zuhörer nach und nach, während sie sich von der Überraschung über das Urteil langsam erholen.

Jährliche Überprüfung

Die Vorgaben lauten: Die Sicherungsverwahrung darf nur als letztes Mittel angewandt werden. Der Sicherungsverwahrte hat ein Anrecht auf einen Vollzugsplan und eine intensive Betreuung durch ein Team aus qualifizierten Fachkräften. Er muss mehr Möglichkeiten bekommen, seine Rechte in der Verwahrung durchzusetzen. Jährlich muss überprüft werden, ob die Verwahrung noch nötig ist. Es muss eine gezielte Entlassungsvorbereitung geben. Es müssen genug Einrichtungen geschaffen werden, die Entlassene aufnehmen.

Vor allem: Der Bund darf den Strafvollzug nicht mehr alleine den Ländern überlassen, wie es durch die Föderalismusreform festgelegt wurde. Er muss den Ländern zumindest Leitlinien vorgeben. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) springt in ihrer ersten Reaktion sofort darauf an. Mit dem Urteil werde die Föderalisierung des Strafvollzuges teilweise korrigiert. Bereits bei der Justizministerkonferenz von Bund und Ländern im Mai will sie das Thema angehen.