"Der politische Islam versteckt sich hinter den Kirchen"

30.5.2017, 15:24 Uhr
Kontrovers und dennoch respektvoll: Hamed Abdel-Samad (links) und Stefan Ark Nitsche beim Streitgespräch.

© Günter Distler Kontrovers und dennoch respektvoll: Hamed Abdel-Samad (links) und Stefan Ark Nitsche beim Streitgespräch.

Herr Abdel-Samad, ist der Islam tatsächlich nicht mehr zu retten, wie Sie im Titel Ihres neuesten Buches behaupten?

Hamed Abdel-Samad: Als System kann der Islam sich selbst nicht reformieren. Der Islam ist immun gegen Reformen, weil er sich mit mehreren Stacheldrahtzäunen umgeben hat. Zum Beispiel mit der Unantastbarkeit des Korans als das letzte, umfassende Wort Gottes. Und mit dem Propheten Mohammed als absolutes Vorbild — gesellschaftlich, moralisch und politisch. Wir können im 21. Jahrhundert aber nicht jemanden zum Vorbild haben, der mit 13 Frauen verheiratet war, der mehr als 80 Kriege geführt hat, der Kriegsgefangene enthaupten ließ und der Frauen als Kriegsbeute nahm. All das nennen wir heute Kriegsverbrechen. Im Christentum haben wir hingegen eine Kirche, die ein Lehramt und eine zentrale Theologie hat. Das haben wir im Islam nicht und deshalb halte ich den Islam als Institution für nicht reformierbar.

Herr Nitsche, Sie gehören einer Kirche an, die in diesem Jahr 500 Jahre Reformation feiert. Wünschen Sie dem Islam einen Martin Luther?

Stefan Ark Nitsche: Ich bin nicht ganz sicher, ob man den Weg, den wir als Christinnen und Christen gehen mussten, einfach auf den Islam übertragen kann. Das maße ich mir auch nicht an. Aber wenn ich Ihnen zuhöre, Herr Abdel-Samad, dann spüre ich die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit der Situation, in der wir gerade leben. Und gleichzeitig tut es mir mit Blick auf einen Großteil der Muslime, die ich hier kennengelernt habe, sehr weh. Weil es bedeuten würde, dass der kulturelle und religiöse Wurzelgrund vieler Menschen, die hier in Deutschland gut mit uns leben, negiert und weggerissen wird.

Und Sie, Herr Abdel-Samad? Würden Sie Ihrer Religion einen Reformator wünschen?

Abdel-Samad: An dieser Stelle beginnt das Problem mit der Vergleichbarkeit von Islam und Christentum. Als Luther seine Reformthesen veröffentlichte, hatte er eine klare Referenz. Er war gegen eine bestimmte Praxis in der Kirche, den Ablasshandel, und er konnte seine Kritik religiös rechtfertigen. Er sagte: Jesus hat keinen Ablasshandel betrieben, davon steht nichts in den Evangelien drin. Das hat damals geklappt, weil das Vorbild und die Texte das zugelassen haben. Im Islam wäre das aber eine Katastrophe.

Nitsche: Ist das wirklich so? Wir hatten voriges Jahr am Reformationstag Aiman Mazyek (Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Anm. d. Red.) zu Gast. Er hat einen Vortrag bei uns gehalten, in dem er auf die Kardinalstellen des Korans abgehoben hat. Er hat von einer von Barmherzigkeit geprägten Religion und einem barmherzigen Gott gesprochen — genau so wie es Luther getan hat, der von den zentralen Stellen der Bibel ausgehend Sachkritik an heiklen Schriftstellen geübt hat: Gott wird in Jesus Christus erkennbar und das heißt: Kritik an Gewalt und Unmenschlichkeit.

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Abdel-Samad: Es gibt aber keine zentralen Stellen im Koran, das ist das Traurige. Wir haben im Christentum einen Jesus, der nur 18 bis 30 Monate auf der Weltbühne aktiv war; der keine politischen Ämter innehatte und nur Gedanken in die Welt gesetzt hat. Im Islam hingegen hat Mohammed 23 Jahre lang gewirkt — nicht nur als Prediger und Prophet, sondern auch als Staatslenker, Gesetzgeber, Heeresführer, Finanzminister und Polizist. Er hat alle diese Aufgaben mit Religion vermischt. Und all das floss in den Koran ein. Wenn Herr Mazyek erzählt, die zentralen Stellen im Koran handeln von Barmherzigkeit, dann täuscht er die Öffentlichkeit. Ich habe die friedlichen und gewaltbejahenden Stellen im Koran aufgelistet. Es gibt 206 Passagen, in denen Krieg und Gewalt nicht nur bejaht, sondern sogar verherrlicht und als Tugend dargestellt werden. Ich kann nicht aus einem Buch Humanismus ableiten, in dem Andersgläubige in Hunderten Passagen massivst beleidigt, diffamiert und gekränkt werden.

Herr Abdel-Samad, haben Sie den Eindruck, dass die beiden christlichen Kirchen in Deutschland zu stark auf Dialog gegenüber dem Islam und zu wenig auf klare Kante setzen?

Abdel-Samad: Ich habe nichts gegen den interreligiösen Dialog — wenn er ehrlich geführt wird. Mein Vorwurf an die Kirchen ist aber, dass sich der politische Islam hinter den Kirchen versteckt, um an mehr Privilegien und Einfluss auf die Bildung zu kommen. Und das ist nicht richtig. Es gibt ethnisch-nationale Vereine, die sich jetzt als Glaubensgemeinschaften tarnen. Das sind aber ethnisch homogenisierte Gruppen, in denen Türken, Bosnier oder Marokkaner jeweils unter sich bleiben. Und die haben gemerkt, dass sie erst dann, wenn sie sich als Glaubensgemeinschaften darstellen, Geld bekommen.

Nitsche: Da gebe ich Ihnen recht, dass wir da sehr genau hinschauen müssen. Aber damit ist das Thema aus meiner Sicht noch nicht bewältigt. Die Herausforderung lautet doch: In Deutschland leben, je nach Zählart, vier bis sechs Millionen Menschen, die sich auf eine andere religiöse Tradition berufen als die Mehrheitsgesellschaft. Und jetzt geht es darum, zu sagen, wen von diesen vier bis sechs Millionen Menschen können wir in welchen Gemeinschaften stützen und stärken. Ich werde als Bürger dieses Landes jedem Menschen, der auf dem Boden unseres Grundgesetzes seine eigene Tradition leben will, die Hand reichen und sagen: Lass uns miteinander gehen.

"206 Passagen im Koran verherrlichen Gewalt"

Und wenn sich diese Menschen gar nicht an der Hand nehmen lassen wollen, weil sie glauben, das Grundgesetz garantiere jegliche Art der freien Religionsausübung?

Nitsche: Da kommt für mich etwas ganz Wichtiges ins Spiel: So sehr ich Ihre Forderung, Herr Abdel-Samad, Religion sei Privatsache, vor dem Kontext, aus dem Sie kommen, verstehen kann: In unserer Gesellschaft ist Religion erfreulicherweise keine Privatsache und darf es auch nicht sein. Es ist eine persönliche Sache, das ja. Aber in unserem Staat sind die Menschen in einer Doppelrolle. Sie sind immer Individuum und Bürger des Landes. Und so ist auch Religion zwar die Angelegenheit einer einzelnen Person, aber weil diese Person auch Bürger dieses Landes ist, hat Religion immer auch eine gesellschaftliche Dimension.

Abdel-Samad: Heißt das, die 2000 Religionen, die es weltweit gibt, können dann auch in Deutschland Religionsunterricht abhalten?

Nitsche: Nein, natürlich kommen da Spielregeln dazu. Wir haben in der Auslegung des Grundgesetzes klare und bewährte Regeln dafür, wen wir als Religionsgemeinschaft anerkennen. Und die erste Voraussetzung ist, dass er auf dem Boden des Grundgesetzes stehen muss. Zudem muss es eine Dauerhaftigkeit und eine transzendente Tiefen-Dimension geben.

Abdel-Samad: Eine praktische Frage dazu: Wenn ein muslimischer Lehrer in der Schule einfach nur den folgenden Vers aus dem Koran zitiert, ohne ihn zu kommentieren: "Oh, die Ihr glaubt, befreundet Euch nicht mit Juden und Christen!" Ist diese Passagen nicht verfassungsfeindlich?

Nitsche: Ja, natürlich. Genauso wie ein einzelner Satz aus der Bibel, der lautet: "Alles was nicht Deines Glaubens ist, rotte aus!". Das ist verfassungsfeindlich, keine Frage.

Abdel-Samad: Aber was machen wir mit dem Religionslehrer, der solche Sätze unkommentiert in seinem Unterricht verbreitet? Er darf doch aus dem Koran zitieren.

Nitsche: Dafür gibt es eine Fach- und Dienstaufsicht in der Schule. Und jeder, der in der Schule unterrichtet, ist auf die Verfassung vereidigt.

Abdel-Samad: Aber wir zitieren doch auch sehr viele Passagen unkommentiert aus der Bibel, etwa "liebet Eure Feinde". Im Koran steht auch, "wenn Deine Feinde mit Dir Frieden schließen wollen, dann schließe Frieden". Das klingt gut, aber vier Seiten später heißt es "ruft nicht zum Frieden auf, wenn Ihr die Oberhand habt!". Wenn es friedlich ist, darf es so stehen bleiben, wenn es aber gewaltbejahend ist, muss es im Kontext zitiert werden?

Nitsche: Nein. Solche Passagen würden niemals in einem islamischen Lehrplan für eine deutsche Schule stehen.

Verstehe ich Sie beide richtig, dass der Protestant Nitsche den islamischen Verbänden die Privilegien zugestehen möchte, die auch die christlichen Kirchen haben, und der Muslim Abdel-Samad sagt, "das geht gar nicht"?

Nitsche: Man muss sich schon auch sehr genau anschauen, wie das religiöse Gegenüber zum Staat verfasst ist. Daran krankt es momentan ja. Wir können es uns als Gesellschaft aber auch nicht erlauben, die religiöse Unterweisung muslimischer Kinder nicht in einem demokratisch legitimierten und staatlich kontrollierten Raum in deutscher Sprache stattfinden zu lassen. Das wäre der Einstieg in Parallelgesellschaften. Wir haben eine Zeit lang gedacht, mit Ditib (Dachverband der türkisch-islamischen Moscheen in Deutschland, von der Türkei kontrolliert, Anm. d. Red.) könnte das gehen. Jetzt sehen wir, dass es nicht geht. Aber das ist kein Argument dafür, es seinzulassen.

Abdel-Samad: Ich frage mich, warum der Unterricht konfessionsgebunden sein muss. Warum können Schüler an der Schule nicht neutral von einem fachkundigen Lehrer unterrichtet werden, egal welchen Glauben dieser Lehrer privat hat. Kein Ethikunterricht, sondern Religionskunde, wie das in Berlin schon praktiziert wird. Ich finde es nicht zeitgemäß, dass Schüler im 21. Jahrhundert immer noch nach Religionen getrennt unterrichtet werden. Man kann einen fachkundigen, wissenschaftlich geprüften Religionsunterricht mit dem nötigen Respekt, aber auch mit der nötigen kritischen Distanz anbieten. Nicht um religiöse Wahrheiten, sondern Informationen und Wissen über die Werte der Religionen zu vermitteln. Dann bleibt der Unterricht neutral und kann nicht für den Fundamentalismus missbraucht werden.

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Nitsche: Ja, aber wir haben doch die Instrumente, um gegen Fundamentalismus im Unterricht vorzugehen. Und ich würde da nicht zu schnell die Flinte ins Korn werfen. Es geht bei Religionsunterricht doch noch um etwas anderes als um Wissensvermittlung. Es geht darum, Identität auszubilden. Und dazu ist Schule genauso da. Ich nehme die Religionskunde in Berlin durchaus als eine ernsthafte Alternative wahr. Ich halte das Modell aber für zu kurz gesprungen. Es geht doch darum, dass die Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, in den Menschen verwurzelt werden müssen. Und das ist keine Sache des Kopfes, sondern des Herzens. Wenn es darauf ankommt, dass ich teile, weil ich viel und andere wenig haben, wenn ich für unsere Gemeinschaft etwas tun müsste, was mich etwas kostet, dann kommt die Motivation dafür ganz oft aus dem Herzen und nicht aus dem Kopf. Und deswegen brauchen wir Religionsunterricht und nicht nur Religionskunde — als einen Teil der Verwurzelung der Menschen und ihrer Identität.

Abdel-Samad: Warum können die Kirchen und Moscheen das nicht leisten?

Nitsche: Weil die Gefahr — und das müssten Sie mir jetzt sofort zugestehen — nicht nur von einer, sondern von Hunderten Parallelgesellschaften extrem groß ist. Ich denke, dass wir mit der Lösung, die wir in Deutschland gefunden haben, einen guten Weg gehen: Religionsunterricht im staatlichen Raum, der durch staatlich vereidigte Lehrer gegeben wird, nach einem Lehrplan, den die Religionsgemeinschaften verantworten.

Abdel-Samad: Aber muss man diesen Weg wirklich gehen, auch wenn die Nebenwirkungen extrem groß sind, etwa wenn es dadurch zu Radikalisierungstendenzen in der Schule kommt?

Nitsche: Ja, ja, ja, den müssen wir gehen — und jetzt werde ich richtig leidenschaftlich. Ich finde, Frankreich und das laizistische Modell (strikte Trennung von Kirche und Staat, Anm. d. Red.) sind ein Beispiel dafür, was passiert, wenn ein Staat nicht dafür sorgt, dass eine kulturell-religiöse Identitätsstiftung möglich wird. Es wird immer leerer in dieser Gesellschaft, ihr fehlt der tiefere Sinn, den eine freiheitlich-demokratische Grundordnung ja qua Bauplan nicht liefern darf.

Abdel-Samad: Der politische Islam hat Ressource. Er ist staatlich gelenkt und er ist der einzige, der tatsächlich in der Lage ist, Glaubensgemeinschaften in Deutschland zu installieren. Die liberalen Muslime sind im Nachteil, weil sie keine Staaten haben wie Saudi-Arabien oder Katar, die sie unterstützen.

Nitsche: Ja dann wird es Zeit, dass wir sie unterstützen.

Abdel-Samad: Der liberale Islam wird zudem individualistisch gelebt, er ist nicht an Macht und Fördergeldern interessiert. Der politische Islam weiß ganz genau, wo er seine Angebote platzieren und wo er sich verstecken kann — nämlich hinter den Kirchen. Wir dürfen den politischen Islam nicht dafür belohnen, dass er bessere Strukturen aufgebaut hat. Und deswegen ist mein Appell an die Kirchen, dass sie diesen Islamverbände, die eigentlich verlängerte Arme des politischen Islam sind, nicht im Namen der Gleichberechtigung Privilegien zuschieben.

Nitsche: Ihre Leidenschaft berührt mich und kommt auch an. Das ist eine berechtigte und wichtige Warnung, die wir hören müssen — als Gesellschaft und auch als Kirchen. Aber es ist nicht die Lösung. Wir müssen die liberalen Muslime unterstützen. Und wenn wir nicht bereit sind, für die Muslime, die nicht vom Ausland Geld bekommen, eine Finanzierungsmöglichkeit zu finden, dann laufen wir tatsächlich in eine große Gefahr. Denn da, wo die Geldströme sind, sind auch die Machtströme. Da bin ich ganz bei Ihnen, Herr Abdel-Samad.

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