Experte für Entscheidungen: "Damit wird Schulz nicht glücklich"

18.1.2018, 20:37 Uhr
Der Philosoph und Autor Christoph Quarch hat ein Buch geschrieben, das Menschen helfen soll, Entscheidungen zu treffen. Im Interview mit der NZ spricht er über Entscheidungen in der Politik und im Alltag.

© Oliver Hallmeier Der Philosoph und Autor Christoph Quarch hat ein Buch geschrieben, das Menschen helfen soll, Entscheidungen zu treffen. Im Interview mit der NZ spricht er über Entscheidungen in der Politik und im Alltag.

Wie trifft man eine gute Entscheidung?

Quarch: Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch die Stadt und jemand bettelt Sie um einen Euro an. Sie fragen sich: "Gebe ich dem was oder nicht?" Jetzt könnten sie darüber nachdenken, welche Vor- und Nachteile Ihre Entscheidung jeweils hätte. Bis Sie damit fertig sind, ist die Person aber schon lange weg. Lassen Sie lieber die Situation auf sich wirken, schauen Sie sich an, was das für ein Mensch ist. Wenn Sie dann Ihrem Impuls folgen und spontan zum Geldbeutel greifen, dann hat die Entscheidung Sie gefunden – und Sie haben sie getroffen. 

Gibt es überhaupt richtige und falsche Entscheidungen?

Quarch: Jein. Die Frage ist immer, nach welchem Maßstab. Wenn ich zum Beispiel als Unternehmer entscheiden muss, ob ich einen Standort schließe, brauche ich einen Maßstab, der mir am Ende sagt, ob die Entscheidung richtig oder falsch war. Ist der Maßstab für mich ein höherer Profit und der stellt sich nach der Standortschließung ein, war die Entscheidung richtig. Will ich aber lieber möglichst viele Mitarbeiter an Bord behalten,ist die Entscheidung, den Standort zu erhalten, richtig. Es geht also vor allem darum, für sich die richtigen Entscheidungsparameter zu finden. 

Was sind denn die richtigen Parameter?

Quarch: Man muss unterscheiden zwischen dem "Ich", das nach Zielen, Plänen und Vorstellungen handelt und der Seele, die vielleicht etwas ganz anderes will. Entscheidungen, die gute Entscheidungen sind, führen dazu, dass es für die Seele stimmt. Wir müssen mit dem, was wir tun, als Person in Einklang stehen. Dann bin ich entschieden. Das ist etwas anderes, als eine Entscheidung gefällt zu haben. 

Haben Sie eine praktische Entscheidungshilfe für Jedermann?

Quarch: Ein Münzwurf ist tatsächlich nicht so schlecht, wenn es darum geht, unser oberflächliches Denken in Zielen und Vorstellungen einmal kurz aufzuknacken. Der Witz aber ist: Es ist nicht entscheidend, welche Seite oben liegt. Wichtig ist, wie ich darauf reagiere. Liegt "Kopf" oben und ich denke "Scheiße", dann ist das ein Impuls, der aus der Tiefe kommt. Dann sollte man lieber die andere Option wählen.

Martin Schulz hat sich bereits am Wahlabend gegen einen neue Groko entschieden. War das richtig?

Quarch: Er wirkte da für mich sehr entschieden. Ich hatte das Gefühl, dass Schulz dem folgte, was er tief in seiner Seele als das Richtige erkannte: keine Groko mehr! So ein erster Impuls ist, gerade wenn er eine gewisse Intensität hat, oft der richtige. Jetzt entscheidet Schulz mehr nach Kalkül und vermeintlichen Verantwortlichkeiten. Ich wette, er wird damit nicht glücklich. 

Welche Rolle hat Druck von Außen beim Sinneswandel des SPD-Chefs gespielt?

Quarch: Ich fand es von Martin Schulz extrem verantwortungsvoll, dass er in der Wahlnacht auf das, was diese Wahl ihm sagte, eine klare Antwort gab: keine Groko mehr. Die ganzen Appelle zur staatspolitischen Verantwortung kommen mir dagegen einigermaßen flach vor. Sie ergehen aus politischem Kalkül. Wenn die Union die SPD zur Verantwortung ruft, dann ruft die Union eigentlich: "Rette uns davor, dass Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin wird." Da geht es nicht um Verantwortung, sie wird nur ins Feld geführt, um politische Interessen zu verfolgen. Ähnliches erlebt man oft in Entscheidungssituationen. Menschen sind heute viel weniger entscheidungsfreudig, weil sie sich stark von den Kriterien und Meinungen anderer beeinflussen lassen. Sie verstehen Entscheidungsfindung dann nur noch als ein Austarieren verschiedener Konstellationen, aus der es möglich unbeschadet herauszukommen gilt. 

Ist es also besser, eher dem Bauchgefühl zu folgen?

Quarch: Das kommt auf die Situation an. Geht es zum Beispiel um Äußerlichkeiten wie eine Geldanlage, ist rationales Abwägen vernünftig. Wenn es aber um existentielle Fragen, etwa einen möglichen Jobwechsel geht, ist man gut beraten, auf die Impulse zu achten, die aus der Tiefe des eigenen Seins aufsteigen. Anders gesagt: Wenn ich mich so verhalte, dass ich mit etwas Bauchschmerzen habe, stimmt etwas nicht. 

Was sind die treibenden Motive politischer Entscheidungen?

Quarch: Das ist sehr unterschiedlich. Bei Frau Merkel ist es sicherlich der Machterhalt. Wenn sie überhaupt Entscheidungen trifft, fallen sie in der Regel so aus, dass sie ein möglichst geringes Risiko bei möglichst wenig Verantwortung eingehen muss. Andere denken stärker gesamtstrategisch. Christian Linder ist mir während der Jamaika-Sondierungen so erschienen. Und dann gibt es Politiker, die von einer bestimmten Ideologie bewegt werden, etwa im Fundi-Flügel der Grünen.

Können Spitzenpolitiker überhaupt frei entscheiden?

Quarch: Ich glaube, die Entscheidungsspielräume sind sehr gering. Theoretisch ist es so: Je mehr Macht ein Politiker hat, desto mehr Entscheidungsfreiheit hat er. Wir haben die Situation, dass die Politik sich immer mehr ökonomischen Pseudo-Zwängen unterwirft. Deswegen ist sie getrieben von ökonomischen Interessen. In den USA ist das noch extremer. 

Was raten Sie einem SPD-Delegierten, der vor der Koalitionsentscheidung steht?

Quarch: Es kann helfen, die Dinge zu visualisieren und sich möglichst präzise vorzustellen, was passiert, wenn die verschiedenen Szenarien eintreten. Was, wenn wir in die Regierung gehen? Was, wenn es Neuwahlen gibt? Dann sollte man darauf achten, wie sich die einzelnen Szenarien für einen anfühlen. Man sollte tief in sich hineinhören und überlegen, mit welcher Entscheidung man noch in den Spiegel schauen kann. Entscheidend muss sein, dass ich meine eigene Integrität und meine eigene Glaubwürdigkeit vor mir selbst nicht aufs Spiel setze. 

Wie würden Sie entscheiden?

Quarch: Ich würde gegen die Groko stimmen. Die Entscheidung in der Wahlnacht fühlte sich für mich richtig an. Ich glaube, das Projekt Groko hilft weder der SPD noch Deutschland. Es macht die Ränder stark und schwächt die Mitte. 

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