Genitalverstümmelung: 50.000 Betroffene in Deutschland

6.2.2018, 07:08 Uhr
Dr. Cornelia Strunz (rechts) ist die ärztliche Koordinatorin des Desert Flower Center Berlin, das Frauen mit verstümmelten Genitalien im Krankenhaus Waldfriede chirurgisch und psychologisch versorgt.

© Wolfram Kastl/dpa Dr. Cornelia Strunz (rechts) ist die ärztliche Koordinatorin des Desert Flower Center Berlin, das Frauen mit verstümmelten Genitalien im Krankenhaus Waldfriede chirurgisch und psychologisch versorgt.

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es weltweit 200 Millionen Frauen, die Opfer dieser grausamen Praxis wurden. Allein in Deutschland leben bis zu 50.000 Betroffene. "Für die Frauen bin ich Schwester, Mutter, aber auch beste Freundin - irgendwie alles", sagt Dr. Cornelia Strunz, Fachärztin für Chirurgie im Krankenhaus Waldfriede in Berlin. Sie betreut im "Desert Flower Center" (DFC) des Krankenhauses Opfer nach weiblicher Genitalverstümmelung.

Zunächst müsse sie das Vertrauen der Frauen gewinnen. Die meisten ihrer Patientinnen waren noch nie in einem Krankenhaus. Noch dazu ist weibliche Genitalverstümmelung ein Tabuthema. "Viele der Frauen hatten keinerlei Sexualaufklärung", betont die Ärztin. Als Conny stellt sie sich in der Selbsthilfegruppe vor, Dr. Conny nennen die Frauen sie.

Jeden Tag gibt es laut Unicef 8000 neue Opfer: Alle elf Sekunden wird ein Mädchen durch rituelle Beschneidung der Genitalien verstümmelt. In manchen afrikanischen Ländern ist diese grausame Praxis noch weit verbreitet, besonders stark in den Wüstenregionen.

Nur wenn ein Mädchen beschnitten wurde, gilt es dort als reines Mädchen, das gesellschaftlich akzeptiert wird und zwangsverheiratet werden kann. Es handelt sich um eine Form von Gewalt und Unterdrückung, basierend auf extrem patriarchalen Traditionen. Großmütter, Hebammen oder professionelle Beschneiderinnen führen das Ritual durch – ohne Betäubung.

Nur noch stecknadelkopfgroße Öffnung

"Die Mädchen werden gewaltsam festgehalten, die Beschneiderin nimmt ein Messer, eine Glasscherbe oder einen anderen spitzen Gegenstand, die teilweise mehrfach verwendet werden, und verstümmelt das Mädchen", erläutert Dr. Cornelia Strunz, Fachärztin für Chirurgie im Krankenhaus Waldfriede in Berlin.

Durch mangelnde Hygiene, und weil sich die Mädchen wehren, könne es zu weiteren Verletzungen, Hepatitis oder HIV-Übertragung kommen. Bei manchen Mädchen wird die Klitoris entfernt, bei manchen zusätzlich die Schamlippen. Die verbliebene Haut wird vernäht. Bei einigen Mädchen bleibt so nur eine stecknadelkopfgroße Öffnung, damit Menstruationsblut und Urin abfließen können.

Einzigartiges Hilfskonzept

Die betroffenen Frauen leiden unter Schmerzen, Infektionen, Inkontinenz und psychischen Traumata. Geburten können lebensgefährlich sein. Deshalb ist das Konzept des DFC ganzheitlich und damit einzigartig: Neben spezialisierten Beckenbodenchirurgen und plastischen Chirurgen sind eine Physiotherapeutin und Psychologin sowie ein Sozialdienst für die Frauen da. Wöchentlich empfängt Dr. Strunz Frauen in ihrer Sprechstunde, einmal im Monat trifft sich die Selbsthilfegruppe, die für alle Betroffenen, nicht nur für Patientinnen, offen steht.

Die Selbsthilfegruppe des Desert Flower Center Berlin trifft sich einmal im Monat und ist für alle Betroffenen offen.

Die Selbsthilfegruppe des Desert Flower Center Berlin trifft sich einmal im Monat und ist für alle Betroffenen offen. © Desert Flower Center

Eine Dolmetscherin mit afrikanischem Hintergrund hilft, falls es Sprachbarrieren gibt. Im Bereich Plastische und Ästhetische Chirurgie wird das Team durch Dr. Uwe von Fritschen des Helios Klinikums Emil von Behring unterstützt. Sind die Patientinnen in Deutschland versichert, übernimmt die Krankenkasse die Kosten für die Operation. Bei Nichtversicherten unterstützt der Förderverein des Krankenhauses die Frauen. 

Angst vor der eigenen Familie

Eine Patientin habe lange gezögert eine Operation zu wagen. "Nach einer Weile sagte sie mir, sie hat total Angst irgendwann in ihre Heimat zurückkehren zu müssen. Wenn dort jemand merken würde, dass sie operiert wurde, würde ihre Familie sie töten", erinnert sich die Fachärztin für Chirurgie.

Im September 2013 wurde das Center im Beisein von Waris Dirie eröffnet, dem somalischen Supermodel, das die Autobiografie "Wüstenblume" schrieb und die Desert Flower Foundation in Wien gründete, die Kooperationspartner des DFC in Berlin ist. 120 Operationen wurden seitdem durchgeführt. "Viele Männer denken, die Frauen wünschten sich eine OP, um mehr Lust zu empfinden. Das ist aber oft überhaupt nicht der Fall", betont Dr. Strunz. Ihre Patientinnen schämten sich für ihr Aussehen und fühlten sich ihrer Weiblichkeit beraubt. "Viele haben Schmerzen im Bereich der Narben und ein Fremdkörpergefühl im Genitalbereich", sagt sie. 

"Ich werde wohl nicht mehr erleben, dass es diese grausame Praxis nicht mehr gibt", sagt Dr. Strunz, die regelmäßig Vorträge über das Thema hält. Sie wünscht sich mehr Aufklärungsarbeit und Projekte gegen weibliche Genitalverstümmelung. "Ich bin froh, wenn ich jeder einzelnen Frau dabei helfen kann, ihre Würde zurückzugewinnen", sagt sie. "Einer der schönsten Momente war, als eine meiner Patientinnen schwanger wurde und rund ein Jahr nach ihrer Operation hier im Krankenhaus ihr erstes Baby bekam", erzählt die Ärztin strahlend.

Weitere Informationen unter www.dfc-waldfriede.de

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