Interview: Wir werden den Austritt Englands verkraften

26.3.2017, 06:00 Uhr
Interview: Wir werden den Austritt Englands verkraften

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NZ: Herr Dr. Friedrich, als langjähriger Europapolitiker waren Sie in der Vergangenheit immer optimistisch. Europa habe schon viele Krisen überstanden, aus denen es gestärkt hervorgegangen sei. Gilt das für die derzeitige Krise auch?

Ingo Friedrich: Mit voller Überzeugung sage ich: Das gilt auch für die derzeitige Situation. Die EU hat schon andere ähnliche schwierige Krisen überstanden. Europa wird die Multikrise nicht nur überwinden, sondern auch positive Konsequenzen daraus ziehen können.

NZ: Aber bislang hat noch nie ein Land die EU verlassen. Bedeutet das nicht eine neue Dimension?

Friedrich: Das ist in der Tat eine neue Erfahrung und nicht zu vergleichen mit dem Fall Grönland, das schon mal ausgetreten ist. Es hat sogar Vorteile, wenn England nicht mehr dabei ist, weil es immer der große Bremser und Verwässerer des europäischen Projektes war.

Alle Analysen deuten darauf hin, dass England unter dem Brexit viel mehr leiden wird als die kontinentale EU. Schön ist es nicht, aber wir werden den Austritt verkraften.

NZ: Es gibt zwei mögliche Konsequenzen aus der Krise der EU: Zurück zu einer reinen Wirtschaftsunion, wie sie vor 60 Jahren gegründet wurde, oder jetzt erst recht mehr Europa bis hin zum Bundesstaat. Wie sehen Sie das?

Friedrich: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass es eine Kombination gibt zwischen dem Weitermachen wie bisher und einem Konzept der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Dieses Konzept besteht ja bereits. Der Schengen-Raum ist ein anderer als der EU-Raum, der Euro-Raum ist wieder ein anderer. Gerade nach der Wahl in Frankreich wird es zu einer besonders engen deutsch-französischen Zusammenarbeit kommen, die auch die Verteidigungs- und Außenpolitik umfasst - in einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Ich erwarte, dass Deutschland und Frankreich ihre besondere Verantwortung dabei wahrnehmen.

NZ: Sie gehen also wie viele davon aus, dass die Nationalisten in Frankreich bei der Wahl keinen Erfolg haben werden. Dieser Ansicht sind viele, aber man hat sich ja schon bei der Entscheidung für den Brexit und bei der US-Präsidentenwahl massiv geirrt.

Friedrich: Ich habe das Gefühl, viele Menschen erkennen jetzt, dass ein Weg zurück in die bloße Nationalstaatlichkeit allen schadet. Viele junge Leute der Bewegung "Pulse of Europe" gehen jeden Sonntag auf die Straße. Die Zeit des engen Nationalismus hat ihren Höhepunkt überschritten. Der andere Weg ist zwar schwierig, aber der richtige. Diese Erkenntnis scheint mir in den letzten Monaten in ganz Europa gewachsen zu sein.

NZ: Aber nach wie vor gibt es starke nationalistische Bewegungen nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Niederlanden, in den EU-Ostländern, auch in Italien. Das spricht doch eigentlich gegen ein Wiedererstarken der proeuropäischen Bewegung.

Friedrich: In einer Demokratie werden sich nie 100 Prozent der Bürger für etwas einsetzen. Wir müssen schon dankbar sein, wenn der Prozentsatz derer, die Renationalisierung für den richtigen Weg halten, sich irgendwo zwischen zehn und 20 Prozent einpendelt. Damit müssen wir leben. In Polen zeigt sich im Übrigen, dass die nationalistische Partei an Stimmen verliert. Der Zulauf zu den Nationalisten scheint mir gebrochen zu sein.

NZ: Ihre Partei, die CSU, ist auch schon seit vielen Jahren unzufrieden mit der Art und Weise, wie Brüssel "regiert". Wenn die derzeitige Krise abgewendet wird, wird dann alles so weitergehen wie bisher?

Friedrich: Ich hoffe, das ist nicht der Fall. Kommissionspräsident Juncker hat schon ein Versprechen eingelöst: Die Zahl der Verordnungen und Richtlinien der Brüsseler Bürokratie hat sich dramatisch reduziert. Durchschnittlich waren es bisher zwischen 100 und 200 Regelwerke pro Jahr, 2016 waren es nur noch 23. Was ich für noch wichtiger halte: Brüssel muss die Hausaufgaben erledigen. Dazu gehören die Probleme mit Griechenland und den Flüchtlingen.

NZ: Viele sind der Meinung, die großen Probleme der EU gehen auf die Einführung des Euro zurück, der die Völker gegeneinander aufgebracht hat. Hätte man die Sache mit dem Euro lassen sollen?

Friedrich: Wir haben Probleme durch die Einführung des Euro, hätten aber auch Probleme, wenn wir ihn nicht eingeführt hätten. Hätten wir heute noch die nationalen Währungen, würde es ständig ein Riesentheater mit Auf- und Abwertungen geben. Die Bundesbank wäre als heimliche Herrscherin Europas ständig im Kreuzfeuer. Ohne den Euro wären die Animositäten deutlich größer. Der Euro zwingt zu unpopulären Anpassungs- und Wettbewerbsmaßnahmen besonders in Südeuropa. Wenn man die schwierige Welt des 21. Jahrhunderts bewältigen will, kommt man um unpopulären Reformen wie bei uns zum Beispiel die Einführung von Hartz IV nicht herum. Ohne Euro könnten sich die Länder vor dieser Problematik durch Abwertungen drücken.

NZ: Die Akzeptanz einer weiteren Souveränitätsebene sei immer schwierig, haben Sie geschrieben. Gilt das auch für die CSU, die ja in einem europäischen Bundesstaat auch Teufelswerk sieht?

Friedrich: Den europäischen Bundesstaat fordert derzeit keine seriöse Kraft mehr, weil er nicht notwendig und sehr schwer zu vermitteln wäre. Aber um diesen Lernprozess kommen wir alle nicht herum. Solange die Flüchtlinge nur in Italien gelandet sind, hat uns das nicht berührt. Erst als sie zu uns nach Deutschland gekommen sind, haben wir gespürt, dass diese Fragen nur gemeinsam gelöst werden können. Diese Frage stellt sich bei immer mehr Themen. Bei vielen großen Herausforderungen ist nur die gemeinsame Ausübung der Souveränität eine adäquate Antwort. Dies zu lernen ist für alle Beteiligten ein sehr schwieriger Prozess.

NZ: Die neue US-Administration ist alles andere als europafreundlich. Könnte es sein, dass die EU-Länder dadurch wieder zusammenrücken?

Friedrich: Ja. Wir diskutieren heute bereits die Verbindung zu den USA in einem ganz anderen Tonfall als vor fünf Jahren. Wenn wir Realisten sind, müssen wir sagen, aus den USA kommt eine Art Eiszeit herüber, die andere Antworten erfordert als die frühere Ära engster Zusammenarbeit. Wir hoffen, dass diese Zeit wieder kommt, aber wenn Trump-Berater Steve Bannon meint, Europa sei ein Gegner oder gar Feind der USA, dann müssen wir unsere Potentiale zusammenlegen, um eine gemeinsame Antwort zu finden.

Wir wollen keine Feindschaft, wir wollen eine Win-Win-Situation zwischen den USA und der EU. Wir müssen uns dagegen wehren, wenn Mister Bannon uns in eine feindliche Position hinein redet.

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