Kein rechtes Ziel für Europa

23.1.2018, 20:03 Uhr
Kein rechtes Ziel für Europa

© Foto: Jens Kalaene/dpa

2013 war das noch ganz anders. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD ("Deutschlands Zukunft gestalten") war dem Thema Europa zwar auch ein eigenes Kapitel gewidmet. Aber es war das sechste von acht, und es war eine Ansammlung von Allgemeinplätzen. Von Vision keine Spur.

Das hat sich grundlegend geändert. In der Sondierungsvereinbarung von Mitte Januar haben Union und SPD das Thema ganz nach vorne gerückt – die drei Seiten, die der Zukunft der EU gewidmet sind, stehen an erster Stelle, direkt nach der Präambel.

Der Anstoß dazu kam unverkennbar von außen. Es war Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, der im September 2017 in einer Grundsatzrede in der Pariser Sorbonne-Universität eine beeindruckende Vision einer künftigen EU entwarf. Es geht ihm um nicht weniger als eine "Neugründung Europas".

Ganz so mutig waren die Autoren des Sondierungspapiers nicht. Auch von dem Vorstoß von SPD-Chef Martin Schulz, der vorgeschlagen hatte, bis 2025 die "Vereinigten Staaten Europas" zu gründen, findet sich in dem Text nichts. Das war offenkundig von Macron inspiriert, doch der Vorstoß kam zur Unzeit.

Dennoch liest sich der Text an einigen Stellen, als hätten die Franzosen mitformuliert. "Ein neuer Aufbruch für Europa" lautet die Überschrift über den ersten Unterpunkt. Die möglichen Großkoalitionäre wollen auf die globalen Umbrüche reagieren. Angesichts "neue(r) Schwerpunktsetzungen der USA" (der Name von Präsident Donald Trump wird vermieden), aber auch wegen des Erstarkens Chinas und der Politik Russlands müsse Europa "sein Schicksal mehr als bisher in die eigenen Hände nehmen", heißt es da.

"Glücklich und zufrieden"

Macron äußerte sich umgehend "glücklich und zufrieden" über das Ergebnis der Sondierer, nicht nur in dem Europa-Kapitel. Michael Roth, der Noch-Staatsminister im Auswärtigen Amt, stellte stolz fest, damit sei Deutschland "europapolitisch zurück auf dem Spielfeld".

Doch im Verlauf des Textes wird dann klar, dass Macron seine Vision deutlich klarer formuliert hatte als die ängstlichen deutschen Sondierer. Von einem eigenen Finanzminister und einem Haushalt für die Eurozone ist dort ebenso wenig die Rede wie vom europäischen Verteidigungsetat und einer gemeinsamen Interventionstruppe. Die Deutschen bremsen, alles ist verklausuliert und vage.

Kein rechtes Ziel für Europa

© Foto: Ludovic Marin/afp

Während Macron trotz des britischen Brexits deutlich mehr Mittel für Europa mobilisieren will, sind die Deutschen da viel zurückhaltender. Nur bei dessen erneutem Vorstoß für eine Finanztransaktionssteuer, die der überbordenden Spekulation entgegenwirken soll, ziehen die Deutschen nun entschlossen mit. Immerhin.

Die Verpflichtung von Union und SPD, "die EU finanziell zu stärken", fällt in dem Papier aber schon merklich schwächer aus, als man das in Paris erhofft hatte. Der Formelkompromiss lautet hier, man befürworte "auch spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Eurozone". Diese Reformen wiederum könnten "Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone sein". Ein gemeinsamer Eurozonen-Haushalt à la Macron wäre da nur ein fernes Ziel, nicht baldige Zukunft.

Schuld an dieser sperrigen Formulierung ist die Union. Vor allem Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble stand einem eigenen Eurozonen-Budget immer skeptisch gegenüber. Die SPD wiederum sieht darin eine Möglichkeit, die wirtschaftliche Schieflage vor allem in den südeuropäischen EU-Staaten zu korrigieren. Und das wäre auch dringend nötig.

Mit der schwammigen Formulierung des Sondierungspapiers umschiffen die künftigen Großkoalitionäre aber eine heikle Stelle, die mit schuld war für das Scheitern der Jamaika-Verhandler. Bundeskanzlerin Angela Merkel nämlich wollte damals das von Macron geforderte eigene Budget für die Eurozone nicht von vornherein blockieren. Für FDP-Chef Christian Lindner war das offenbar zu viel.

Spürbare Unterschiede gibt es auch bei der von Macron geforderten europäischen Verteidigungszusammenarbeit, für die das Kürzel Pesco ("Permanent Structured Cooperation") steht. Geht es nachdem französischen Präsidenten, soll es schon zum Beginn des kommenden Jahrzehnts ein europäisches Verteidigungsbudget geben und eine gemeinsame Interventionstruppe aufgestellt sein, die schnell eingreifen kann, wenn ein Krisen-Hotspot zu lodern anfängt. Das geht vielen in Deutschland zu weit.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sprach sich schon früh gegen eine gemeinsame Interventionsarmee aus. Und auch im Sondierungspapier heißt es nur sehr unverbindlich, dass man die Pesco-Zusammenarbeit "stärken und mit Leben füllen" wolle. Immerhin, 25 Staaten haben sich der Initiative bisher angeschlossen, und die Minister haben sich auf eine Liste von 17 Projekten geeinigt. Es geht unter anderem um Ausbildung, verbesserte Einsatzfähigkeit und Krisenreaktion sowie ein medizinisches Hauptquartier. Die Unterschiede sind hier noch groß – und es ist auch zweifelhaft, ob eine weitere Militarisierung der Sicherheitspolitik wirklich hilfreich wäre.

Energisch beworben

Sinnvoller sind andere Punkte in dem Sondierungspapier: eine stärker koordinierte Flüchtlingspolitik, eine "kohärente Afrika-Strategie" oder eine "Vorreiterrolle" beim Klimaschutz — alles Punkte, die Macron energisch einfordert. Doch bleiben die Formulierung da viel zu vage.

So bleibt es vorerst bei Symbolik. Etwa vor zwei Tagen, als Politiker aus dem jeweiligen Nachbarland an Sitzungen der Parlamente in Paris und Berlin teilnahmen. Nach 55 Jahren soll der Élysée-Vertrag einer Frischzellenkur unterzogen werden. Das wäre nötig, doch Floskeln reichen hier nicht.

Die Unterschiede zwischen beiden Seiten will man in Paris dennoch nicht überbewertet wissen. Als Beispiel dafür führte einer der engsten Berater Macrons jüngst bei einem Treffen mit deutschen Journalisten die Verlautbarungen zur Brexit-Strategie an. In Paris war viel von Bewegung und Initiative die Rede, während Merkel in Berlin von Stabilität und "Schritt für Schritt" sprach. Beides war vorab bis ins Detail abgesprochen worden. Man nahm eben nur Rücksicht auf die Befindlichkeiten.

Macron und Merkel seien jedenfalls "enger beieinander als alle ihre Vorgänger", versichert man in Paris – und ergänzt: "Wir wissen, dass es anders aussieht." Auch dass der dynamische Franzose gern Visionen beschwört, die deutsche Kanzlerin aber beharrlich "auf Sicht" regiert, will man in Paris nicht als Problem sehen. "Das ist eher ein Vorteil", beteuert der Macron-Berater. "Frankreich ist oft zu ambitioniert, Deutschland bringt immer Realismus herein."

Beide Seiten wissen freilich, dass sie bald Ergebnisse liefern müssen – europaweit. Der Stichtag ist die nächste Europawahl im Mai oder Juni 2019. Wenn das deutsch-französische Gespann bis dahin nicht gemeinsam Fortschritte auf den Weg bringt, die bei den Bürgern verstanden werden, könnte es unangenehme Wahlergebnisse und einen weiteren Aufschwung der Rechtspopulisten geben. Das ist die Messlatte, nicht die Befindlichkeiten einer GroKo. Die Deutschen werden sich noch bewegen müssen.

 

(Nächste Folge: Kann Deutschland atomwaffenfrei werden?)

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