Nürnberger Menschenrechtspreis würdigt Engagement von "Caesar"

29.9.2016, 08:10 Uhr
Nürnberger Menschenrechtspreis würdigt Engagement von

© Foto: Reuters

Das muss sich eine Jury erst mal trauen: Es gilt, eine renommierte Auszeichnung zu verleihen – und dann wird ein Preisträger gekürt, der sich an einem unbekannten Ort aus Sicherheitsgründen verstecken muss. Mehr noch: von dem nicht mal eines der international vernetzten Jury-Mitglieder den richtigen Namen kennt – geschweige denn ihn je schon zu Gesicht bekommen hat.

Dennoch entschied sich die Jury am Sonntagabend einstimmig, im kommenden Jahr "Caesar" mit dem Nürnberger Menschenrechtspreis zu ehren: Es ist der Deckname, den sich ein syrischer Fotograf mit seinen Helfern geben musste. Er hat mit Zehntausenden von erschütternden Bildern Untaten und Verbrechen des Assad-Regimes schonungslos offengelegt.

Nicht nur er selbst hat dabei laufend sein Leben riskiert. Auch alle, die ihm halfen, seine Aufnahmen außer Landes und in Sicherheit zu bringen, gingen hohe Risiken ein. "Es ist sicher die ungewöhnlichste Verleihung in der Geschichte des Nürnberger Menschenrechtspreises", kommentiert Oberbürgermeister Ulrich Maly die Entscheidung. Und das nicht nur wegen der radikalen Anonymität, sondern auch, weil die Würdigung ausdrücklich nicht nur einem einzelnen "Helden", sondern nun erstmals einer Gruppe gelten soll.

"Nichts ohne meine Helfer"

"Die dient sozusagen als Unterstützungsmechanismus; aber Caesar besteht darauf, dass er ohne diese Helfer nichts hätte ausrichten können", erläutert Prof. Gareth Evans, der als ehemaliger australischer Außenminister der Jury wie auch dem Beratergremium des UN-Generalsekretärs zur Verhinderung von Völkermord angehört. "Unser Preisträger hat schon früher betont, dass er allein ohne die Gruppe nichts bewirkt hätte."

Alles lief und läuft in diesem Fall über vertrauliche und vertrauenswürdige Quellen. "Ein Jury-Mitglied hat den Vorschlag eingebracht; auch andere, sehr überzeugende Namen waren in der Diskussion. Am Ende fiel unser Beschluss einstimmig", berichtet Maly. Stützen konnte sich die Jury unter anderem auf die Reportage der französischen Journalistin Garance Le Caisne, der es nach langen Recherchen gelungen war, Caesar zu interviewen. Zudem waren seine Bilder unter anderem schon im UN-Hauptquartier in New York ausgestellt.

Ursprünglich wurde "Caesar" mit seiner Kamera zu Unfällen gerufen, in die Soldaten verwickelt waren, auch zu Tatorten von Verbrechen oder abgebrannten Häusern. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 wurde er eingespannt in die "Bürokratie des Todes": Systematisch hatte er Leichen von syrischen Soldaten wie auch Oppositionellen zu fotografieren und die Aufnahmen zu archivieren. Was er täglich sah und erlebte, setzte ihm so zu, dass der Wunsch in ihm reifte, die Öffentlichkeit wachzurütteln: Er begann, die Bilder heimlich zu kopieren und ins Ausland schmuggeln zu lassen.

Aber erst, nachdem er mit seiner Familie seiner Heimat 2013 den Rücken gekehrt hatte, wurden die ersten Fotos im Internet publiziert. Das "Gütesiegel" verlieh seiner Arbeit eine Untersuchung von ehemaligen Chefanklägern internationaler Strafgerichte: Ihr Bericht bescheinigte "Caesar", dass seine "Beweise verlässlich waren und in jedem nachfolgenden Prozess ohne Risiko verwendet werden könnten". Nach den Worten von Desmond De Silva, der Leiter der Untersuchung, seien Morde "in industriellem Ausmaß" durch das syrische Regime belegt.

Und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch untermauerte die Authentizität von "Caesars" Bildern durch die Gegenüberstellung mit Fotos der Opfer, ehe diese in die Hände der Assad-Schergen gerieten. Ihr Bericht "Wenn die Toten sprechen könnten" war im vergangenen Dezember erschienen. "Ganz neu ist das alles leider nicht", merkt denn auch Evans an. Aber seit "Caesar" Syrien verlassen hat, ist dort ja alles noch schlimmer geworden – und der Krieg ist der aktuell wohl verheerendste Konflikt auf der Welt.

Entscheidend ins Gewicht fiel bei den Beratungen der Jury neben alledem aber noch der Bezug zu Nürnberg als der Wiege der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Auch hier, in den Verfahren gegen die NS-Größen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hatten Fotos, Filme und andere Dokumente schon eine Schlüsselrolle gespielt.

"Die Beweiskraft der Bilder ist vielleicht das einzige Mittel gegen die Straflosigkeit", fasst das Stadtoberhaupt die Position der Jury zusammen. "Und auch wenn es vielleicht nie gelingt, die Verantwortlichen des Syrienkonflikts dingfest zu machen, hat das Signal doch Gewicht, dass jeder, der an Folter und Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist, damit rechnen muss, eines Tages irgendwo erwischt zu werden." Tatsächlich bastelt derzeit offenbar ein französisches Anwaltskonsortium an einer entsprechenden Klage.

Gegen falsche Neutralität

Dabei hält die Nürnberger Jury wenig von vermeintlicher Ausgewogenheit. "Natürlich sind in Syrien auch dem Islamischen Staat und Rebellen-Milizen extreme Menschenrechtsverletzungen anzulasten", stellt Evans klar. Aber angesichts der dokumentierten Untaten der Assad-Diktatur dürften weder die Vereinten Nationen noch andere Organisationen in neutraler Distanz verharren.

Viel Sorgfalt und Sensibilität werden im kommenden Jahr erforderlich sein, um die Preisverleihung ohne Preisträger angemessen zu gestalten. Vor allem bleibt zu klären, wo und wie "Caesars" Arbeiten und sein Engagement anschaulich gemacht werden können. Die Redaktion hat sich entschieden, an dieser Stelle auf den Abdruck der bedrückenden Fotos schwer entstellter Leichen aus Folterzentren wie der berüchtigten Gefängnishölle von Sednaja zu verzichten. Zu finden sind sie im Internet bei der Organisation Human Rights Watch.

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