Pharma-Skandal Contergan: Ein Leben ohne Arme

28.11.2011, 05:00 Uhr
Pharma-Skandal Contergan: Ein Leben ohne Arme

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Marita Pachter ist es gewohnt, Widerstände zu überwinden. Das geht nur mit Energie, nicht mit Klagen — und deshalb erzählt sie erst auf Nachfragen, dass ihr Rücken häufig schmerzt: „Er wird ja täglich überlastet.“

Dies hat einen besonderen Grund: Die 49-Jährige, die in der Nähe von Altdorf lebt, ist Contergan-geschädigt: Ihre beiden Hände sind eng am Körper angewachsen, so dass sie sich viel häufiger bücken muss als andere Menschen. Das schadet besonders der Wirbelsäule.

Contergan war ein Beruhigungs- und Schlafmittel, das das Pharmaunternehmen Grünenthal 1957 rezeptfrei auf den Markt gebracht hatte. Es wirkte dazu gegen die typische Morgenübelkeit im Frühstadium einer Schwangerschaft — also wurde es besonders werdenden Müttern empfohlen.

Mit verheerenden Folgen: Denn dass die Arznei heranwachsende Kinder schädigen konnte, war mit den damals gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen nicht entdeckt worden. Weltweit wurden in der Folgezeit rund zehntausend Kinder geboren — ohne Arme oder Beine, mit nur einer Niere, mit defekten Gelenken oder mit Sehbehinderungen. Etwa 2500 leben heute in der Bundesrepublik.

Aufmerksamer Arzt

Dass dieser Spuk ein Ende nahm, ist das Verdienst des Hamburger Kinderarztes Widukind Lenz. Er hat die Geschichte kurz vor seinem Tod im Jahr 1995 in einem Gespräch mit unserer Zeitung erzählt: norddeutsch-nüchtern und sachlich, obwohl es sich um die größte Tragödie in der deutschen Nachkriegsmedizin handelte.

Weil er auch Erbforscher war, fiel ihm die steigende Zahl behinderter Kinder auf, die auf die Welt kamen. Er suchte deshalb nach einer gemeinsamen Ursache — und fand sie ihn Contergan. Erst schilderte er seinen Verdacht auf einem Kongress, kurz darauf verständigte er Grünenthal. Am 27. November 1961, vor genau 50 Jahren, wurde das Mittel vom Markt genommen.

Dass er wegen seiner Unbeirrbarkeit damals seine Karriere riskierte, dass er sich ständigen Angriffen aussetzte, das hat er damals übrigens nicht erwähnt. Auch nicht, dass ihm Grünenthal-Vertreter noch am 20. November 1957 „Rufmord an einem Medikament“ vorgeworfen hatten. Konsequenz war ihm wichtiger als Angst. Grünenthal gelang es, die finanziellen und juristischen Folgen der Katastrophe zu begrenzen: Firmenmitinhaber Hermann Wirtz und acht seiner leitenden Angestellten müssen sich zwar 283 Verhandlungstage vor dem Landgericht Aachen verantworten, aber das Verfahren wird am 18. Dezember 1970 eingestellt.

Das ist das Ergebnis eines komplizierten juristischen Deals: Die Firma gibt 100 Millionen Mark an eine Stiftung, der Bund die gleiche Summe. Zugleich werden weitere Regressansprüche gesetzlich ausgeschlossen. Die Zahlungen an die Betroffenen sind eher bescheiden: Im Höchstfall waren es damals 25000 Mark Einmalleistung und 450 Mark monatliche Rente.

Rente verdoppelt

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Wenigstens finanziell verbessert hat sich die Situation der Betroffenen erst nach 2007: Ein zweiteiliger ARD-Film mit den Titeln „Eine einzige Tablette“ und „Der Prozess“ erregt Aufsehen. Der Bundestag verdoppelt die bis dahin mehrfach angepassten monatlichen Zahlungen auf heute mindestens 250 und höchstens 1127 Euro. Ein Vertreter der Grünenthal-Eigentümerfamilie Wirtz beginnt sogar Gespräche mit dem Bundesverband Contergangeschädigter. Doch die Hoffnung auf eine Einigung zerbricht schnell: Grünenthal zahlt zwar freiwillig weitere 50 Millionen Euro in die Stiftung ein, der Bund ebenso. Aus dieser Summe gibt es jährliche Sonderzahlungen. Außerdem verspricht die Firma, sich um Härtefälle zu kümmern. Margit Hudelmaier, Vorsitzende des Bundesverbandes, reicht das jedoch nicht: „Es war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber jetzt gibt es keine Bereitschaft mehr, weiter zu helfen.“

Denn nun zeigen sich zahlreiche Spätschäden. Wer zum Beispiel mit den Füßen schreibt, weil er keine Hände hat, bekommt mit etwa 50 fast unweigerlich Hüftschmerzen. Die Behandlungen müssen bezahlt werden, und nicht immer übernehmen die Krankenkassen nötige Massagen. Viele Geschädigte müssen vorzeitig in Rente; auch dann fehlt Geld.

Dass das Alter zum Problem werden kann, weiß auch Marita Pachter: „Für mich ist es ein großes Glück, dass ich einen Mann habe, der mich begleitet“, sagt sie heute. Aber ihr ist klar: Wenn sie später einmal allein sein sollte, „dann muss ich vielleicht in ein Heim“.

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